SicherheitWirtschaft

In der Pulverwerkstatt

15. August 2023

Europa braucht Munition. Nicht nur für die Ukraine, auch für das eigene Militär. Die Rheinmetall-Tochter Nitrochemie stellt in Aschau die dringend benötigten Treibladungspulver und -systeme für Panzermunition und Artilleriegeschosse her – und das rund um die Uhr.

„Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit.“ Das waren die Worte des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj unmittelbar nach Beginn des russischen Angriffs gegen sein Land. Das Zitat hat auch im zweiten Jahr des Krieges nichts von seiner Aktualität verloren, im Gegenteil. EU, NATO und natürlich die Ukraine benötigen vor allem Artilleriegeschosse. Die Beschaffung hat höchste Priorität und ist (Regierungs-)Chefsache.

Wechseln wir von der Weltbühne nach Aschau am Inn. Hier ist der deutsche Standort der Rheinmetall-Tochter Nitrochemie, ein zweiter Standort befindet sich im schweizerischen Wimmis. Seit Oktober 2022 wird in der Produktionssparte für Antriebssysteme im Vierschichtbetrieb gearbeitet – 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. In Aschau werden Treibladungspulver und Hülsen aus Nitrocellulose für großkalibrige Waffensysteme hergestellt – unerlässlich für die Herstellung von Munition. Geschosse bestehen im Wesentlichen aus einem Gehäuse, einem Zünder, Sprengstoff und einer Treibladung bzw. einem separaten Treibladungssystem. Letztere erzeugen den Druck, um das Geschoss aus dem Lauf einer Waffe zu katapultieren.

(Foto: Ralf Grothe, zeit-licht.de 2023)

Dr. Georg Lingg

Jahrgang 1964. Seit 2014 leitet Dr. Georg Lingg die Rheinmetall-Tochter Nitrochemie als CEO der Standorte Wimmis/Schweiz und Aschau/Deutschland. Der gebürtige Leimener ist gelernter Maschinenbau-Ingenieur.

Präzision und Sicherheit

Dass hier unter Hochdruck gearbeitet wird, erschließt sich dem Laien erst auf den zweiten Blick. Auf dem weitläufigen, 95 Hektar großen Gelände befinden sich die Verwaltung und mehrere dutzend kleinere Gebäude, eine große Fabrikhalle fehlt komplett. Die Kleinteiligkeit ist der Sicherheit geschuldet, denn die Belegschaft sitzt im wahrsten Sinne des Wortes auf einem Pulverfass. Sollte es tatsächlich einen Zwischenfall mit den hochexplosiven Stoffen geben, muss eine Kettenreaktion ausgeschlossen werden. Safety first ist auch das Motto von Dr. Georg Lingg, seit 2014 CEO der Nitrochemie: „Sicherheit steht immer an erster Stelle. Danach die Produktqualität und danach die Quantität. Immer in dieser Reihenfolge.“

Der Maschinenbau-Ingenieur führt die Geschäfte von Aschau und Wimmis: „Wir stellen in der Schweiz die wesentlichen Rohstoffe her, die für die Produktion der Aschauer Treibladungspulver benötigt werden, in erster Linie die so genannte Rohmasse aus Nitrocellulose und Nitroglycerin.“ Diese wird ganz klassisch mit der Bahn nach Oberbayern transportiert. Was überaus gefährlich klingt, sei „gar nicht so schlimm“, meint Dr. Oliver Becker. Der habilitierte Verfahrenstechniker ist in Aschau als Produktionsleiter für die Herstellung der Pulver verantwortlich: „Die Rohmasse ist mit 25 Prozent Wasser versetzt. Die können Sie nicht einmal mit einem Feuerzeug anzünden.“

Die Rohmasse wird in Aschau mit verschiedenen Stoffen vermengt. Dazu gehören Stabilisatoren, Mündungsfeuerdämpfer und andere Energieträger, mit denen die Abbrandgeschwindigkeit verändert werden kann. Denn es ist so, dass das Pulver nicht detoniert, sondern gezielt abbrennt – allerdings mit immenser Geschwindigkeit.

Der so angereicherte „Teig“ ist jetzt bereit für die Walze. Der Walzendruck entzieht der Rohmasse das Wasser, rein mechanisch, ohne Einsatz von Chemie. Oliver Becker ist sichtlich stolz darauf: „Das kann nicht jeder.“ So entsteht eine Art Teppich, zwei Millimeter dick, das so genannte Walzfell, welches zu einer Rolle gewickelt wird.

Das „Pulver“ ist ein Pellet

Jetzt geht es in die Presse. Zentraler Teil ist hier die Matrize, die je nach gefertigtem Produkt variiert. Aus der Presse kommt eine Art Kabel, das dann in kleine Pellets in Zylinderform geschnitten wird – das Treibladungspulver. Unter anderem geben kleine Löcher im Strang die Abbrandgeschwindigkeit vor. Je mehr Löcher, desto progressiver der Abbrand, die Bandbreite reicht von einem bis zu 19. Die Treibmittel für den Antrieb von Artilleriegeschossen haben grundsätzlich eine höhere Lochzahl.

Nitrocellulose ist ein Nachprodukt von Baumwolle, davon zeugt auch der umgangssprachliche Name „Schießbaumwolle“. Dementsprechend können durch Witterungs- und Herkunftsbedingungen Unterschiede in der Beschaffenheit vorkommen. Das Endprodukt hingegen muss stets gleichbleibend präzise ausfallen. Deswegen müssen die Pulverchargen noch homogenisiert werden.

Bildergallerie

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Treibladungspulver in höchster Qualität herzustellen, das ist der Anspruch der Nitrochemie in Aschau. Die Nachfrage nach den Antriebssystemen ist immens, doch in der Produktion heißt es gerade deswegen, einen kühlen Kopf zu bewahren – Präzision statt Massenproduktion bleibt die Devise. (Foto: Robert Wagner)
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Die Rohmasse aus Nitrocellulose kommt aus dem Schweizer Standort Wimmis. In Aschau wird diese zunächst im so genannten Absetzgebäude gelagert und dann weiterverarbeitet. (Foto: Robert Wagner)
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Das Pulver wird gewalzt, um ihm das Wasser zu entziehen. Dafür wird die Masse durch einen hauchdünnen Walzspalt gedrückt. Während des Vorgangs darf der Walzenraum nicht betreten werden, der technische Projektmanager Dr. Andreas Hofmann überwacht den Vorgang am Monitor.
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Das Ergebnis des Walzvorgangs: ein etwa 2mm dicker „Teppich“ aus Nitrocellulose. (Foto: Robert Wagner)
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Dieser Teppich wird von Hand zu einem über 20 kg schweren Wickel gerollt. (Foto: Robert Wagner)
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Wegen der austretenden Dämpfe muss der Mitarbeiter eine Atemschutzmaske tragen. (Foto: Robert Wagner)
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Anschließend wird der Wickel zur Weiterverarbeitung in die Presse gebracht. (Foto: Robert Wagner)
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Innenprozesskontrolle: Hier werden regelmäßig Pulverproben geprüft. (Foto: Robert Wagner)
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Nicht nur die Einhaltung der Maße ist dabei wichtig. (Foto: Robert Wagner)
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Der Rohstoff Baumwolle, aus dem Nitrocellulose hergestellt wird, unterliegt als Naturprodukt Schwankungen. Deswegen wird das Pulver homogenisiert, um immer gleichbleibende Qualität zu garantieren. (Foto: Robert Wagner)
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Ebenfalls in Aschau hergestellt werden die Hülsen für die Treibladung. Die hier abgebildeten Panzerhülsen bestehen aus Nitrocellulose. Nitrochemie-Mitarbeiter Peter Baal setzt diese nach der so genannten Verfilzung in eine „Bügelpresse“, in der ihnen das Restwasser entzogen wird. Anschließend bekommen sie auf einer Drehbank den letzten Schliff. (Foto: Robert Wagner)

Mehr Manufaktur als Fabrik

Der Betrieb in Aschau läuft rund um die Uhr. Doch von Massenproduktion kann keine Rede sein bei der Verarbeitung dieser hochsensiblen Materialien – so dringend sie auch benötigt werden. Jeder Arbeitsschritt geht in Handarbeit, jede Kiste, jeder Wickel, jeder Pulverbehälter wird separat in die verschiedenen Herstellungsstufen, in einzelnstehende Gebäude transportiert und weiterverarbeitet. Das Prinzip Safety first greift bis ins letzte Detail der Fertigung. So sind beispielsweise die Gabelstapler in den sensiblen Produktionsbereichen geschützt, damit sich der Pulverstaub nicht an einer warmen Oberfläche entzünden kann.

Der einzige Ort, der ein klein wenig weitläufiger erscheint, beherbergt die Laborierung. Hier wird das Pulver in eine Hülse aus Nitrocellulose abgefüllt, die zuvor mit einem ebenfalls selbst hergestellten Anzündverstärker ausgerüstet wurde. Die Pulverpellets müssen teilweise von Hand abgewogen werden, damit die erforderliche hohe Genauigkeit beim Ladungsgewicht erreicht wird. Unter anderem werden im Nitrochemie-Werk die modularen Treibladungssysteme für die mittlerweile berühmte Panzerhaubitze 2000 gefertigt. In früheren Zeiten wurde das Pulver in Textilsäcken in Artilleriekanonen eingefüllt. Je nachdem, wie Reichweite und Flugbahn berechnet waren, wurde der Sackinhalt nur zum Teil verwendet, der Rest weggeworfen. Mit dem modularen Treibladungssystem kann die Ladung genau dosiert werden, ohne dass Abfälle entstehen, Oliver Becker vergleicht das System gerne mit Füllerpatronen.

Die fertigen Treibladungsmodule kommen je nach Kundenwunsch in spezielle Kunststoff- oder Metallbehälter, die wiederum auf Paletten gepackt werden. Die handelsübliche Europalette kommt hier – natürlich – nicht zum Einsatz, denn die Anforderungen an die Transportsicherheit sind enorm. Die Paletten und die Verpackung der Patronen müssen hitzebeständig bis zu einer Temperatur von 71° C sein, kältefest bis –51° C, Erschütterungen, beispielsweise denen eines Hubschrauberflugs, standhalten und auch den Sturz einer Fallhöhe von 36 m (z. B. von einem Containerschiff ins Meer) überstehen, ohne zu zerbrechen.

Nitrochemie-Gruppe

Deutsch-schweizerisches Unternehmen: Die Nitrochemie-Gruppe hat ihren Sitz in Wimmis im schweizerischen Kanton Bern und im oberbayerischen Aschau am Inn.

Geschäftsfelder

Antriebssysteme (Treibladungspulver) und Chemiezwischen­produkte (u. a. Herstellung von Silikon­vernetzern, die in handelsüblichen Silikonkartuschen enthalten sind).


Mitarbeiter

480

Aschau

218

Wimmis


Historie

Beide Standorte haben eine lange Tradition: In Wimmis wird seit dem Ende des Ersten Weltkrieges Pulver hergestellt. Seit 1953 firmiert der Standort Aschau unter dem Namen WNC Nitrochemie und stellt dort Pulver her, 1994 erfolgte die Übernahme durch Rheinmetall.

1998 fusionierten der Geschäftsbereich „Pulver & Ladungen“ der SM Schweizerische Munitionsunternehmung AG in Wimmis und die WNC Nitrochemie zur Nitrochemie-Gruppe. Der Aschauer Standort firmiert seither als Nitrochemie Aschau GmbH, der Schweizer Standort als Nitrochemie Wimmis AG.

Dr. Oliver Becker, Jahrgang 1964, leitet seit 2018 als Senior Vice President Operations die Produktion am Standort Aschau. Der gebürtige Münchner ist habilitierter Verfahrenstechniker. (Foto: Robert Wagner)

Personaloffensive

Bereits unmittelbar nach Ausbruch des Ukrainekriegs, also Ende Februar 2022, begann die Nitrochemie, die Pulverkapazitäten in Aschau zu erhöhen. Die größte Herausforderung war die Personalakquise im ländlichen Raum: „Der Arbeitsmarkt in der Region Aschau ist quasi leergefegt“, so Georg Lingg. Doch das Management ließ sich etwas einfallen: „Wir haben eine echte Recruiting-Offensive gestartet – mit Kinospots, Flyern, Außenwerbung und einem Kennenlerntag in Kooperation mit dem Arbeitsamt. Wir konnten so ab 1. Oktober den 24/7-Betrieb in der Pulverfertigung starten und unser Produktionsvolumen um ca. 40 Prozent steigern.“

Anfang 2022 hatte die Nitrochemie noch 440 Mitarbeitende. Bis Ende 2023 werden um die 510 Menschen in Aschau beschäftigt sein. „Das ist eine große Zahl, gerade wenn man bedenkt, dass der Zuwachs sich ausschließlich auf den Unternehmensbereich Antriebssysteme bezieht und nicht auf den Chemie-Bereich“, sagt Oliver Becker. „Außerdem wächst bei so viel neuem Personal auch die gesamte Infrastruktur des Unternehmens mit, zum Beispiel Duschen, Umkleiden und Aufenthaltsräume.“

Artenvielfalt in Aschau

In einem modernen Unternehmen muss auch Nachhaltigkeit gewährleistet sein, wo immer dies möglich ist. Bei den Antriebssystemen der Nitrochemie sind naturnahe Stoffe im Spiel, erklärt Georg Lingg: „Unsere Ausgangsrohstoffe werden aus einer speziellen Baumwollfaser hergestellt. Die Sprengöle werden aus Glycerin hergestellt. Also sind unsere Produkte an sich bereits recht nachhaltig. Das klingt zwar seltsam, ist aber so.“ „Im Übrigen ist die Herstellung des Walzpulvers in Aschau an sich nachhaltig, weil keine Lösemittel gebraucht werden“, ergänzt Oliver Becker.

Das Gelände beherbergt sein eigenes Klärwerk, in dem die Abwässer biologisch gereinigt werden. Der Standort ist von Wald umgeben, es gibt keine Jäger und kaum Lärm oder Verkehr – der Produktionschef freut sich täglich über die Artenvielfalt: „Hier ziehen Rehe durch, wir haben Dachse, viele Vogelarten und unten am Inn hausen die Biber – den Tieren und Pflanzen scheint es bei uns zu gefallen!“

Engagement und Herzblut

Die Nachfrage nach Treibladungspulvern wird auch in Zukunft hoch bleiben. Eine große Aufgabe für die Hersteller, gerade wenn man bedenkt, dass so gut wie jeder Arbeitsschritt in Handarbeit durchgeführt und ein immenser Sicherheitsaufwand betrieben werden muss. „Die Aufgaben hier sind wirklich vielschichtig. Es gibt technische Herausforderungen, für die man breites Wissen benötigt“, sagt Oliver Becker – aber gerade das mache seinen Beruf so spannend. Mit am wichtigsten sei, die Mitarbeiter als Team zusammenzuhalten, „gerade die, die in unterschiedlichen Bereichen arbeiten“.

Viel Herzblut steckt auch Georg Lingg in seinen Job: „Neben den Menschen, die ich durch meine Arbeit kennenlernen darf, berührt es mich, dass wir ein Produkt herstellen, das notwendig ist, um die Ukraine zu unterstützen und die Verteidigungsfähigkeit Europas zu gewährleisten“, sagt der CEO, „und ich nehme wahr, dass in jüngster Zeit die Wertschätzung für die Verteidigungsindustrie enorm gestiegen ist. Für mich ist das eine sehr positive Entwicklung.“

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