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Die vergangene Zukunft des Krieges

13. Februar 2024 - von Dr. Gerd Portugall

Neue Taktiken, modernste Waffensysteme und eine lückenlose Aufklärung – Hightech und Digitalisierung verändern das Gesicht gewaltsamer Konflikte weltweit. Gleichzeitig erleben traditionelle Formen der Kriegsführung ihr Revival. Beginnt eine neue Ära des Krieges?

Konflikte

Der Ukrainekrieg hat alle Illusionen zunichtegemacht, dass moderne Konflikte sich zu Kämpfen mit wenigen menschlichen Opfern im Cyberspace entwickeln könnten. Stattdessen tobt eine neue Art des Krieges mit hoher Intensität. Nach Angaben der Vereinten Nationen sollen bislang bis zu 500.000 ukrainische und russische Soldaten gefallen oder verwundet worden sein. Die Schlachtfelder werden durch Satelliten, Drohnen, Sensoren und Handydaten immer transparenter. Und dennoch: Der Verbrauch von Waffen und Munition ist enorm, was Produktion und Logistik vor größte Herausforderungen stellt. Ob die Ukraine langfristig eine Chance gegen die russischen Streitkräfte haben wird, hängt nicht zuletzt davon ab, wie viel Ausrüstung und finanzielle Unterstützung sie aus dem Kreis ihrer westlichen Partner erhält.

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(Foto: Getty Images / Libkos)

Grabenkampf

Verkohlte Kraterlandschaften, Schlamm und tiefe Schützengräben – was an den Ersten Weltkrieg und die Schlachtfelder von Verdun erinnert, ist für die Soldaten im derzeitigen Ukrainekrieg zum zermürbenden Alltag geworden. Rund 1.000 Kilometer lang ist die aktuelle Front zwischen den beiden Kriegsparteien. Wie hier in Bachmut gibt es seit Monaten kaum Bewegung. Der Konflikt hat sich zu einem brutalen Abnutzungskrieg für Mensch und Material entwickelt.

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(Foto: Getty Images / Libkos)

Landkrieg

Traditionell verhindern Minenfelder und Panzerartillerie ein Vorrücken des Feindes. Die Luftaufnahme zeigt einen ukrainischen T-64-Panzer auf seinem Weg in den Kampfeinsatz bei Bachmut. In einem bislang nicht gesehenen Ausmaß kommen im Ukrainekrieg Drohnen zum Einsatz. Sie sind allgegenwärtig und identifizieren jede Truppenbewegung. Stärker als je zuvor prägt der Blick von oben das Bild vom Krieg – sowohl in der militärischen Aufklärung als auch in den sozialen Medien. Aufnahmen von zerstörten Panzern oder gefangenen Soldaten verbreiten im Netz vermeintliche Erfolgsgeschichten. Verifizieren lassen sich solche Propagandabilder nur selten.

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(Foto: Getty Images / Libkos)

Materialschlacht

Wie in den Stellungskriegen des vergangenen Jahrhunderts haben sich die Soldaten beider Seiten in Unterständen verschanzt. Sie versuchen, die Verteidigungslinie an der Front zu halten, beschießen einander mit Maschinengewehren, Mörsern und Panzern. Die verschiedenen Waffensysteme verbrauchen Munition im Minutentakt. Längst müssen die Kriegsparteien ihre Geschosse rationieren. Derweil macht die EU Tempo bei der Munitionsbeschaffung. Die Ukraine benötigt für ihre Artillerie insbesondere Granaten. Als deren größter Produzent kann Rheinmetall hier einiges in die Waagschale werfen.

Spätestens mit dem russischen Überfall auf die Ukraine, den immer unverhohleneren militärischen Drohungen der Volksrepublik China gegen Taiwan, den nuklearen Einschüchterungsversuchen Nordkoreas und dem jüngst wieder aufgeflammten Nahostkonflikt liegt die internationale Friedensordnung weitgehend in Trümmern. Überall in der westlichen Welt mehren sich aktuell kritische Stimmen, die auf die jahrelange Abrüstung und die somit einbehaltene „Friedensdividende“ nach dem Ende des Kalten Krieges abzielen. Was ungerechtfertigt erscheint. Denn in einer Zeit, als beispielsweise Deutschland nur noch „von Freunden umzingelt“ war, so 1992 der damalige Verteidigungsminister Volker Rühe, wäre eine Aufstockung des Bundeswehr-Etats völlig illusorisch gewesen. Forderten Politik und Öffentlichkeit in jenen Jahren doch genau das Gegenteil: weniger Geld, weniger Personal und weniger Material für die deutschen Streitkräfte – wie anderswo in Europa auch.

Neue Dimension von Nähe

Der jetzige Ukrainekrieg lässt viele Staaten in puncto Aufrüstung fundamental umdenken. Und er veranschaulicht, wie sich die öffentliche Wahrnehmung von räumlicher Nähe oder Ferne in Bezug auf eine kriegerische Auseinandersetzung unterscheiden kann. Die Gegensätze sind enorm, dem vermeintlich ungebremsten Fortschreiten der Globalisierung – einschließlich der weltweiten medialen Berichterstattung darüber – zum Trotz: Während in Syrien im Rahmen des „Arabischen Frühlings“ seit 2011 und im Jemen seit 2014 blutige Bürgerkriege toben, die – ähnlich wie die Balkankriege – später durch Interventionen externer Akteure internationalisiert worden sind, scheint das dabei ausgelöste Betroffenheitsgefühl in Europa eher begrenzt zu sein. Obwohl gerade Syrien als unmittelbares Nachbarland des NATO-Mitglieds Türkei durchaus zur unmittelbaren Peripherie Europas gerechnet werden kann.

Beim Ausbruch des Ukrainekrieges vor rund zwei Jahren war hingegen der Schock in den europäischen Zivilgesellschaften groß. Die Millionen ukrainischer Flüchtlinge, die seither in einzelnen europäischen Staaten Schutz vor den Folgen des Krieges suchen, verstärken dieses Empfinden zusätzlich. Ebenso werden Länder, die – wie Deutschland – Kiew militärisch, humanitär und finanziell zur Seite stehen, immer wieder unterschwellige Opfer hybrider Formen der Kriegsführung, wobei ziemlich eindeutige Spuren unter anderem nach Russland führen. Wieder anders verhält es sich mit den aktuellen Ereignissen in Israel und in Gaza: Dieser nahöstliche Regionalkonflikt wird zunehmend auf die Straßen in Europa und Deutschland getragen.

Der hybride Krieg: Wenn Grenzen zwischen Krieg und ­Frieden verschwimmen

Die gewaltsamen Konflikte der Gegenwart zeigen: Der Kreml führt seinen Krieg nicht nur mit Soldaten, sondern kombiniert den militärischen und politischen Druck mit Cyber-Attacken, Desinformation und verdeckten Einsätzen. Israel erlitt am 7. Oktober 2023 einen massiven Angriff der Terrororganisation Hamas, der sich in der Wahl seiner Mittel deutlich von einer konventionellen militärischen Aggression unterschied. Doch worin besteht dieses qualitativ Andere einer hybriden Kriegsführung und was sind demgegenüber die Konstanten des Krieges? Auf welche Bedrohungen müssen wir uns einstellen, welche Lehren lassen sich aus den bisherigen Geschehnissen ziehen?

Mit Entweder-oder-Kategorien, in denen gerade hierzulande gerne gedacht wird, lassen sich die Fragen nicht zufriedenstellend beantworten. Klar ist: Die Komplexität erfordert ein Sowohl-als-auch. Die aktuellen Erscheinungsformen des Krieges sind ein Mix aus ursprünglichen Gegensätzen, bei denen letztlich die Grenzen zwischen Krieg und Frieden verwischen und militärisches Handeln in zivile Bereiche ausgeweitet wird. Zu beobachten sind:

  1. Vorgehensweisen, die teils offen – also klar zurechenbar – und teils verdeckt ausgeführt werden (z. B. Spionage und Propaganda)
  2. staatliche und nichtstaatliche Akteure (z. B. politische Parteien, Unternehmen, NGOs)
  3. militärische und nichtmilitärische Instrumente (z. B. Diplomatie und Ökonomie, aber auch Steuerung von Migration)
  4. symmetrische Staatenkriege und asymmetrische Guerilla- und Terrorkriege
  5. traditionelle und moderne Kriegsführung
  6. reguläre und irreguläre Kombattanten

Das Arsenal der hybriden Kriegsführung dient maßgeblich einem Zweck: der Durchsetzung der eigenen Ziele zwar durchaus gegen Widerstände, aber unter Vermeidung eines offenen militärischen Angriffs. Denn dieser hätte gravierende Konsequenzen – von der vollumfänglichen Landesverteidigung des Angegriffenen bis hin zum multinationalen Bündnisbeistand durch Dritte. Manche sprechen deshalb aktuell von einem „Kalten Krieg 2.0“ zwischen Russland und der westlichen Staatenwelt.

Paramilitärs weltweit auf dem ­Vormarsch

Die Verschleierung auf mehreren Ebenen ist ein typisches Merkmal hybrider Kriegsführung. Dazu gehört der Einsatz von Söldnertruppen oder von regulären Soldaten ohne Hoheitszeichen. Letztere spielten 2014 bei der gewaltsamen Annexion der Krim eine entscheidende Rolle. Die „grünen Männchen“ – russische Militärs ohne Abzeichen und damit völkerrechtlich irreguläre Kombattanten – stifteten sowohl auf Seiten der Ukraine als auch in westlichen Staaten Verwirrung.

Die bekannteste „Private Military Company“ im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts war Blackwater USA, die vor allen Dingen im Irak aktiv war. Heutzutage ist die berüchtigtste Söldnertruppe die russische Wagner-Gruppe, die insbesondere in Syrien, in der Sahelzone und bis vor kurzem in der Ukraine ihr Unwesen trieb. Auch Verbrecher aus den Bereichen Organisierte Kriminalität, Terrorismus und Piraterie können zu sicherheitspolitisch relevanten Akteuren mutieren – wie zum Beispiel Drogenkartelle in Kolumbien und Mexiko oder Islamisten und Piraten in Somalia.

In einer Söldnertruppe, bei Paramilitärs, Warlords oder in einer Fremdenlegion werden in- und ausländische Freiwillige gegen Bezahlung und gegebenenfalls mit einer neuen Identität im Kriegsgeschehen eingesetzt. Auch strafgefangene „Freiwillige“ mit Strafnachlass-Versprechungen gehören zu den Rekrutierten. Diese Umstände kommen der „Freikaufmentalität postheroischer Gesellschaften“ (Herfried ­Münkler) sehr entgegen, welche die jeweils eigene „Jeunesse dorée“ (etwa: elitäre Jugend) nicht auf dem Schlachtfeld opfern wollen. Aber auch für staatliche Akteure sind eigene reguläre „Boots on the Ground“ häufig ein Problem. Nicht ohne Grund ergänzen immer mehr unbemannte oder weitgehend autonom agierende Systeme wie Kampfdrohnen das militärische Portfolio, um die Gefährdung der Soldatinnen und Soldaten in Kampfeinsätzen zu reduzieren.

Nacht für Nacht tobt am Himmel über Tel Aviv und anderen israelischen Städten ein Luftkampf, wie ihn die Welt in dieser Dimension noch nicht erlebt hat: Israels Flugabwehrsystem „Iron Dome“ im Einsatz gegen die Raketen aus dem Gazastreifen (Foto: Getty Images / MAHMUD HAMS)

Zivilisten als menschliche ­Schutzschilde

Oft missbrauchen nichtmilitärische Akteure unschuldige Zivilisten als sogenannte menschliche Schutzschilde. Wo zum Beispiel die palästinensische Hamas aus dem dichtbesiedelten zivilen Raum im Gazastreifen heraus agiert und ihre Kommandostellen mutmaßlich unter Moscheen und Krankenhäusern hat, wird die Bekämpfung mit militärischen Mitteln denkbar schwierig – und angesichts unvermeidbar hoher Zahlen ziviler Opfer politisch nur schwer vermittelbar. Erschwert wird die Situation für reguläre Streitkräfte als staatliche Instrumente noch dadurch, dass gemäß dem humanitären Völkerrecht durchaus gesetzliche Beschränkungen gelten – wie etwa die Genfer Konvention und die Haager Landkriegsordnung, denen sich paramilitärische oder terroristische Kräfte freilich nicht verpflichtet fühlen.

Palästinenser posieren mit einem eroberten Panzer an der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Israel. Der überraschende und brutale Angriff der islamistischen Terrorgruppe Hamas war für Israel und seine westlichen Verbündeten ein Schock. (Foto: picture alliance)

Neue Formen geopolitischer Konflikte

Physische Schäden lassen sich heutzutage nicht nur mit kinetisch-analogen Gewaltmitteln anrichten, sondern auch kybernetisch-digital. Längst hat der technologische Fortschritt im modernen Informationszeitalter eine neue Erscheinungsform des Krieges entwickelt: den „Cyber War“ im virtuellen Raum. Insbesondere kritische Infrastrukturen (KRITIS) von Staaten und zivilen Einrichtungen sind dadurch gefährdet. Das angeblich amerikanisch-israelische Computer-Schadprogramm „Stuxnet“, das iranische Uran-Zentrifugen beschädigt haben soll, ist nur eines von vielen Beispielen. Außerhalb der Konfliktzonen sind neben staatlichen Institutionen zunehmend Privatunternehmen virtuellen Angriffen ausgesetzt. Die Grenzen des Krieges verschwimmen auch hier.

Zusätzliches Konfliktpotenzial birgt der weltweite Klimawandel. Naturkatastrophen verursachen massive Migrationsbewegungen, die sich destabilisierend auf Transit- und Aufnahmeländer auswirken können. Wie unlängst Belarus, so instrumentalisieren autokratische Regime Geflüchtete immer wieder als politisches Druckmittel. Gleichzeitig verschärfen die Klimaveränderungen Verteilungskämpfe um knappe Ressourcen wie Wasser. In der Arktis legt die Erderwärmung außer wertvollen Rohstoffen neue geostrategisch bedeutsame Handelsrouten frei. Das weckt Begehrlichkeiten.

Gewaltandrohung: Die Rhetorik der Eskalation

Neben physischer Gewalt gegen die Ukraine wendet Russland psychische Gewalt gegen die europäische Staatenwelt an. Gemäß der UN-Charta sind „Androhung oder Anwendung von Gewalt“ unvereinbar „mit den Zielen der Vereinten Nationen“. Das hindert Russland nicht daran, immer wieder mit dem Einsatz atomarer Waffen zu drohen. Neben dieser massiven Form der Abschreckung gehören Einschüchterungsversuche gegenüber der NATO-Ostflanke (hier besonders im Baltikum und in Polen) ebenso zum Repertoire des Kreml wie Androhungen, den „Gas- oder Ölhahn zuzudrehen“.

Daneben versucht Russland, direkt auf die Innenpolitik von westlichen Staaten einzuwirken – und zwar über das links- und rechtspopulistische Parteienspektrum Europas. In den USA ging der manipulative Einfluss Russlands auf die innenpolitische Debatte so weit, dass ihm bei den Präsidentschaftswahlen 2016 messbare Wirkung zugunsten Donald Trumps zugeschrieben wurde. In Deutschland werden sowohl die AfD als auch Teile der Linkspartei bereitwillig von Moskau hofiert und für deren Großmachtziele instrumentalisiert. Beide Parteien sind im Bundestag sowie in zahlreichen Landtagen vertreten.

Die Gefahr aus dem Netz

Cyber-Attacken haben sich zu einer ernstzunehmenden Bedrohung entwickelt. Nahezu die komplette deutsche Wirtschaft ist mittlerweile davon betroffen. Der dadurch entstandene Schaden beläuft sich jährlich auf 148 Milliarden Euro. Die meisten Attacken kommen seit Beginn des russischen Angriffskriegs aus Russland und China.


Quelle: Studie im Auftrag des Digitalverbands Bitkom aus dem Jahr 2023

„Fake News“ als Waffe

Das Informationszeitalter besitzt nicht nur eine technologische Dimension, wie sie etwa im Cyber-Krieg virulent ist, sondern in Form gezielter Desinformation auch eine psychologische. Beide sind Mittel des Informationskrieges, wobei „Psychological Warfare“ viel älter ist als der Cyber-Krieg: Der Begriff geht zurück auf Arbeiten des britischen Heeresgenerals J. F. C. Fuller aus den 1920er Jahren. Heutzutage zählen zu den Erscheinungsformen der gezielten Desinformation Verschwörungstheorien, „alternative Fakten“ und „Fake News“. Statt überzeugende Thesen zu liefern, sollen die manipulativen Falschmeldungen beim Gegner die Glaubwürdigkeit der staatlichen Stellen und der freien Medien erschüttern, so dass am Ende alles und nichts geglaubt werden kann. Wenn es darum geht, die weltweite Meinungshoheit zu gewinnen, sind die sozialen Medien – X, Instagram, Facebook, Telegram, TikTok & Co. – das Feld der virtuellen Propagandaschlacht der Konfliktparteien.

Der Staatenkrieg zwischen Tradition und Moderne

Sei es in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, bei kritischen Infrastrukturen oder im Bereich der Information – hybride Maßnahmen erweitern das Gefechtsfeld. Das hat der Ukrainekrieg umfassend bewiesen. In militärischer Hinsicht offenbart der andauernde gewaltsame Konflikt eine ambivalente Mischung von traditionellen Taktiken und Instrumenten früherer Kriege sowie modernster Hochtechnologie. Als äußerst effektiv erweisen sich in den Gefechten längst überwunden geglaubte „klassische“ Elemente der Kriegsführung wie Schützengräben, Minenfelder, Panzersperren, gepanzerte Kräfte und Artillerie im größeren Stil. Gleichzeitig unterstützen allsehende Sensoren auf High­tech-Drohnen, Fahrzeugen und Maschinen die waffentechnisch hochgerüsteten und vernetzt agierenden Soldatinnen und Soldaten. Unbemannte Luftfahrzeuge und autonom fahrende Panzer sind mittlerweile Realität.

Ebenso hat der Ukrainekrieg die Einschätzung des Personalbedarfs verändert. Bis dato galten Massenheere („Levée en masse“) im modernen 21. Jahrhundert als wenig zeitgemäß. Viele Staaten setzten infolgedessen die allgemeine Wehrpflicht außer Kraft. Auch wenn Russland und die Ukraine nicht dazugehörten, müssen beide im anhaltenden Krieg immer wieder neue Jahrgänge für ihre Heere mobilisieren. Die Intensität ist hoch – sowohl personell als auch materiell. Um den immensen Bedarf an Waffen, Munition und Ausrüstung decken zu können, haben sowohl der Kreml als auch die Regierung in Kiew ihre Industrien auf Kriegswirtschaft umgestellt.

KI und Digitalisierung

Gleichzeitig nutzen im Ukrainekrieg die Militärs beider Seiten – soweit möglich – Neuerungen der Kriegsführung wie das Operationsnetzwerk C5ISR („Command, Control, Computers, Communications, Cyber, Intelligence, Surveillance, and Reconnaissance“). Viele militärische Hightech-Lösungen basieren darauf – seien es Kampf- und Kamikazedrohnenschwärme, satellitengestützte GPS-Aufklärung oder die Steuerung von Waffensystemen über Netzwerke wie „Starlink“ des US-Raumfahrtunternehmens „SpaceX“. Dank der fortschreitenden Digitalisierung lassen sich Handys zur Zielerfassung orten, moderne Flugabwehr vom Nah- und Nächstbereichsschutz realisieren oder aus größerer Entfernung ballistische Raketen abwehren. Aber auch die Kommunikation über allgemein zugängliche Social-Media-Plattformen an der Front spielt eine zunehmend zentrale Rolle.

Etymologie

Als sicherheitspolitische Fachtermini populär wurden „hybrid war“ beziehungsweise „hybrid warfare“ zwischen 2005 und 2009 durch den amerikanischen Strategieforscher und ehemaligen Stabsoffizier des U.S. Marine Corps, Dr. Frank G. Hoffman. Wenige Jahre zuvor prägte hierzulande der bekannte deutsche Politikwissenschaftler Prof. Herfried Münkler den Begriff der „Neuen Kriege“. Ganz unter dem Eindruck der Terroranschläge vom 11. September 2001 entstanden, analysiert er in seinem gleichnamigen Buch die Ambivalenz und Komplexität moderner Kriegsformen.

Klassische Vorratshaltung vs. flexible Lieferketten

Was der Ukrainekrieg ebenfalls zeigt: Der Wandel von der traditionellen Vorratshaltung zu Zeiten des Kalten Krieges hin zu flexiblen Lieferketten im Rahmen einer modernen Logistik hat sich negativ auf die Operationsführung ausgewirkt. In Konflikten mit Gefechten hoher Intensität führt der Materialverschleiß die Logistik schnell an ihre Grenzen. Im Februar 2022 hatte Russland auf einen raschen Sieg gesetzt. So glaubte der Aggressor damals noch, dass seine Streitkräfte haushoch überlegen, modern ausgerüstet und professionell geführt wären. Als dieser Plan bereits vor Kiew scheiterte, war damit – wieder einmal – die Aussage des preußischen Generalstabschefs Helmut von Moltke (d. Ä.) bestätigt worden: „Kein Plan überlebt die erste Feindberührung!“ Nach den ersten Niederlagen auf dem Schlachtfeld erkannte die Militärführung in Moskau die Notwendigkeit, die Struktur der russischen Streitkräfte anzupassen. Deshalb fordern die Militärs beider Seiten die Massenmobilisierung von Soldaten und die Rüstungsindustrie zunehmend eine Rückkehr zur klassischen Vorratshaltung.

Neue Militärdoktrinen verändern die Kriegsführung

Wie in der Dimension Land, so verändern sich die Planungen auch im Marinebereich und bei den Luftstreitkräften. Viele Staaten weichen in ihrer Marinedoktrin ab vom klassischen Hochseegefecht hin zur Küstenkriegsführung („Littoral Warfare“) – inklusive der Fähigkeit, militärische Machtprojektion von See her in Richtung Land durchführen zu können. In Luftmachtdoktrinen gewinnen, wie bereits skizziert, unbemannte Systeme immer größere Bedeutung. Der Trend geht hier zu Mischformen von bemannten und unbemannten Plattformen als „System of Systems“. Die Militarisierung des Weltraums und der Cyber-Krieg mit dem entsprechenden technologischen Unterbau eröffnen neue Dimensionen.

Umgekehrt können die geostrategischen Konsequenzen aus moderner Kriegsführung altbewährt ausfallen: So erlebt die westliche Staatenwelt notgedrungen eine Renaissance der konventionellen und auch der nuklearen Abschreckung. Neu ist hier allerdings, dass die konventionelle Überlegenheit sich jetzt auf der westlichen Seite befindet – anders als im „Kalten Krieg 1.0“. Wie damals Spanien und die Türkei, so wollen sich auch heute wieder – in der neu aufgelegten Konfrontation zwischen Ost und West – bisher traditionell neutrale Staaten wie Finnland und Schweden unter den Schutzschirm der NATO begeben beziehungsweise haben dies bereits getan.

Lehren aus dem Ukrainekrieg

Nach dem „Kalten Krieg 1.0“ galt für die europäischen Streitkräfte dank Friedensdividende und Digitalisierung die Devise „doing more with less“: mehr militärische Fähigkeiten bei gleichzeitigem „Downsizing“ von Geld, Personal und Material. Mit der von Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufenen „Zeitenwende“ hat sich dies fundamental geändert. Der neu eingeschlagene Kurs in der deutschen Verteidigungspolitik sieht eine massive Aufrüstung der Bundeswehr sowie eine weitreichende finanzielle und materielle Unterstützung der Ukraine vor. So könnte sich der Jurist Olaf Scholz, der in den 1980er Jahren in der Friedensbewegung aktiv war, im Rahmen seiner jetzigen Politik theoretisch auf den 28. US-Präsidenten und Politikwissenschaftler Woodrow Wilson berufen, der 1917 beim Eintritt der Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg festgestellt hat: „Recht ist kostbarer als Frieden.“ Derweil hat Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius das Ziel ausgegeben, die Bundeswehr wieder „kriegstüchtig“ zu machen.

Die NATO hat auf diese Bedrohungslage reagiert und sich bei ihrem Vilnius-Gipfel im Sommer 2023 auf neue Verteidigungspläne verständigt. Die Pläne definieren auch, welche Fähigkeiten im Ernstfall notwendig sind, um Aggressoren abzuschrecken und das Bündnisgebiet zu schützen. Dabei geht es nicht nur um Land-, Luft- und Seestreitkräfte, sondern auch um den Cyber- und den Weltraum. Aus dem Ziel, dass die NATO-Mitgliedsstaaten jeweils zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts in Verteidigung investieren, wurde in Vilnius das Zwei-Prozent-Minimum.

Der Blick nach vorne: die Streitkräfte der Zukunft

Die für die Rüstung bei Streitkräften Verantwortlichen haben bereits ihre Lehren aus den Kriegsereignissen gezogen. Neue militärische Fähigkeiten sind auf die Tagesordnung gekommen. Gleichzeitig erleben „klassische Mittel“ und konventionelle militärische Vorgehensweisen ihre Renaissance. Hinter vorgehaltener Hand sagen Militärs heute: „Vieles von dem, was wir in den vergangenen Jahren über Bedrohungsszenarien und Kampfführung gelehrt haben, war aus heutiger Sicht komplett falsch.“ So ist es kein Zufall, dass die deutsche Regierung die Munitionsbestände der Bundeswehr – nicht nur bei der Artillerie – wieder erheblich aufstocken will. Für die Panzergrenadierkräfte wurde ein zweites Los Schützenpanzer „Puma“ bestellt, für die nukleare Teilhabe der Bundeswehr sind atomwaffenfähige Kampfflugzeuge vom Typ ­F-35A Lightning II geordert worden.

Auch im Bereich der Luftverteidigung sind wichtige Weichenstellungen erfolgt, um einen weiträumigen Schutz sowie eine wirksame Nahbereichs-Flugabwehr zu ermöglichen. Hierzu soll insbesondere auch die Neuaufstellung der Heeresflugabwehrkräfte der Bundeswehr dienen, die 2012 außer Dienst gestellt worden waren. Von welch zentraler Bedeutung all dies ist, hat sich sowohl in der Ukraine als auch in Israel gezeigt. Schon lange vor dem Vilnius-Gipfel, aber nach dem russischen Überfall auf die Ukraine haben europäische Mitgliedsstaaten der NATO eine Initiative gestartet, um sich besser gegen Angriffe durch Flugkörper, Geschosse oder Luftfahrzeuge zu wappnen: die „European Sky Shield Initia­tive“ (ESSI, siehe Artikel auf Seite 24f.). Auch im Rahmen dieser Initiative sind Beschaffungs- und Wartungsaufträge für Flugkörper, Kanonen und Laser zu erwarten.

Aufgabe für eine Dekade

Der Handlungsbedarf ist also mannigfaltig: Im konventionellen Bereich müssen die leeren Munitionslager aufgefüllt, Panzer, Waffensysteme und Lkw nachbeschafft sowie auch frühere militärische Fähigkeiten wiederhergestellt werden. Gleichzeitig fordert der Krieg der Zukunft – möge er nie geführt werden – ein Höchstmaß an Digitalisierung und Vernetzung, neue Kampfmittel wie Drohnen und andere unbemannte Systeme sowie Hightech bei Aufklärungs- und Abwehrmitteln. „Kriegstüchtigkeit“ herzustellen, wird eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe für den Zeitraum von mindestens einer Dekade sein. Sie erfordert erhebliche finanzielle und auch personelle Ressourcen – aber vor allem auch den erklärten Willen der Gesellschaft, die eigenen Werte schützen und notfalls auch verteidigen zu können.


Autor

Dr. Gerd Portugall

arbeitet seit mehr als 35 Jahren als Sozialwissenschaftler und Fachjournalist auf den Forschungsfeldern Sicherheitspolitik und Militär. Seit 2022 schreibt er als freier Redakteur für einen militärischen Fachverlag in Deutschland.

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