
Gute Frage
27. August 2025
10. April 2025
Nicht erst seit dem Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump ist klar: Die EU muss sich in puncto Verteidigung neu aufstellen. Wie sie die Transformation gestalten will, darüber spricht DIMENSIONS mit dem ranghöchsten Militär der Europäischen Union, General Robert Brieger.
General Robert Brieger,
Jahrgang 56, leitet seit 2022 als Vorsitzender des Militärausschusses der Europäischen Union das Beratungsgremium für Außen- und Sicherheitspolitik in der EU. Vor seiner Amtszeit in Brüssel war Brieger Generalstabschef in Österreich und in dieser Zeit maßgeblich an der Transformation des österreichischen Bundesheeres beteiligt.
Herr General Brieger, wie hat sich der Ukraine-Krieg auf die europäische Sicherheitspolitik ausgewirkt?
Die Europäische Union als Ganzes hat auf den Ukraine-Krieg sehr rasch und nachhaltig reagiert. Die Vereinbarung entsprechender Unterstützung an militärischer und nichtmilitärischer Art, aber auch die Verhängung von Sanktionen zeigen dies. Was die Mitgliedsstaaten anbetrifft, so bilden gemeinsame Beschlüsse die Grundlage für das Handeln der Europäischen Union. Dadurch wird grundsätzlich einvernehmlich gearbeitet und der politische Wille sichergestellt. Inzwischen legte die EU-Kommission auch ein Weißbuch zur Verteidigungspolitik vor und startete die Initiative „Rearm Europe“.
Mit Amtsantritt von Präsident Donald Trump haben sich nun weitere Herausforderungen ergeben. Wie bewerten Sie die weitere Zusammenarbeit zwischen den USA und der EU?
Es war schon vor dem Amtsantritt von Präsident Trump erkennbar, dass sich die Vereinigten Staaten sicherheits- und verteidigungspolitisch stärker auf den fernen Osten konzentrieren, da China als Hauptkonkurrent identifiziert wurde. Diese politische Entwicklung sehe ich als Beschleunigungsfaktor für die europäischen Bemühungen. Wenn sich die Vereinigten Staaten sicherheitspolitisch in eine andere Sphäre orientieren und somit ihre Ressourcen in Europa limitiert bleiben oder sogar noch weiter limitiert werden, müssen die Europäer mehr tun, um ihre gemeinsamen Verpflichtungen zu erfüllen. Einfach gesagt: Wir Europäer müssen mehr für die europäische Verteidigung tun. Wir müssen mehr investieren, dies möglichst kooperativ tun und bei Investitionen die militärische End-User-Perspektive berücksichtigen…und wir müssen das möglichst bürokratiefrei und zeitnah realisieren.
Was sind die hauptsächlichen sicherheitspolitischen Herausforderungen, denen sich die EU gegenübersieht?
Nach wie vor wird Russland in der Bedrohungsanalyse eine prominente Rolle einnehmen. Darüber hinaus ist der Westbalkan für Europa eine bedeutende Region, in der Stabilität nicht als gegeben angenommen werden kann. Dort bestehen weiterhin Herausforderungen. Europa hat sich im strategischen Kompass auf eine 360-Grad-Orientierung festgelegt. Das bedeutet, dass auch krisenhafte Entwicklungen in Afrika, insbesondere wenn sie mit illegaler Migration, Terrorismus und ähnlichen Problemen verbunden sind, im Krisenreaktionsmechanismus der Union berücksichtigt werden müssen.
Der Missbrauch illegaler Migration – den wir etwa seitens Weißrussland gegenüber Polen sehen – ist übrigens ein Erscheinungsbild des Phänomens der hybriden Kriegführung: Krieg und Nicht-Krieg fließen in diesem hybriden Spektrum ineinander. Daher müssen die Entscheidungsträger erkennen, dass wir uns in einigen Domänen bereits im Krieg befinden. Ebenso wie es laufend Cyberangriffe auf relevante Systeme der westlichen Gesellschaft gibt.
Wie bewerten Sie die Rolle Chinas aus EU-Sicht?
Das Verhältnis zu China ist mehrschichtig. Natürlich ist und bleibt die Volksrepublik ein Kooperationspartner bei der Bewältigung globaler Krisen. China ist aber auch ein ökonomischer Konkurrent und bis zu einem gewissen Grad ein Rivale, vor allem systemisch und gesellschaftlich. Diese Vielschichtigkeit gilt es zu berücksichtigen. Es geht darum, ein korrektes Verhältnis mit pragmatischen Lösungen zu verfolgen, dabei jedoch auch die Risiken des Aufstiegs Chinas zu bedenken und den militärischen Fähigkeitszuwachs der asiatischen Großmacht richtig einzuordnen. Für Europa bleibt derzeit jedoch Russland das größte Risiko.
Wie wird sich das Verhältnis zwischen EU und NATO in Zukunft gestalten?
Es gibt nur noch vier EU-Staaten, die nicht zugleich auch Mitglieder des Atlantischen Bündnisses sind. Zwischen beiden Institutionen besteht eine lang anhaltende Partnerschaft und es gibt eine große Anzahl vom gemeinsamen Arbeitsprogrammen. Grundsätzlich lässt sich davon ausgehen, dass sich europäische Streitkräfte an den NATO-Standards orientieren und die Fähigkeitsziele komplementär oder teilweise übereinstimmend sind. Gleichwohl muss man den Unterschied der beiden Organisationen im Auge behalten. Die Europäische Union ist – auch wenn ihre militärische Komponente in letzter Zeit mehr Beachtung findet – eine vielseitige politische Organisation. Sie kann in ihrem Krisenmanagement eine Vielzahl von Mitteln zum Einsatz bringen. Die NATO als militärisches Verteidigungsbündnis ist auf die kollektive Verteidigung fokussiert. Neu ist, dass diese beiden Aspekte zunehmend zusammenfließen. Die Europäische Union verfügt über den Artikel 42/7, der zur gemeinsamen Beistandsleistung verpflichtet. Das ist eine ähnliche Rechtslage wie der Artikel 5 bei der NATO.
Hierfür ist es sicher wesentlich, dass die Europäische Union ihre Rolle als koordinierende Stelle einnimmt. Es gibt etwa mit der europäischen Verteidigungsagentur eine Organisation, die die verschiedenen Rüstungsbestrebungen aufeinander abstimmen soll. Die 27 EU-Verteidigungsminister haben sich auf Fähigkeitsziele geeinigt. Es sind 22 Prioritäten identifiziert worden, darunter etwa die Luftverteidigung, Drohnenabwehr, militärische Mobilität, aber auch das Sanitätswesen – große Pakete, wo ein deutlicher Nachholbedarf erkannt wurde. Nun geht es darum, diese Fähigkeitsziele gemeinschaftlich kooperativ zu verfolgen und dabei Überschneidungen möglichst zu vermeiden.
Was würden Sie sich in sich bei der Europäischen Rüstungskooperation noch wünschen, wo sehen Sie noch eventuell Optimierungspotenziale?
Die Fähigkeitslücken zu schließen, ist sowohl eine finanzielle Frage als auch eine Frage der Koordinierung. Ich würde mir wünschen, dass die europäischen Mitgliedstaaten vermehrt die Instrumente der EU nutzen und durch gemeinsame Beschaffungen die Vielfalt des vorhandenen Materials reduzieren. Dies würde ermöglichen, benötigtes Material zeitnah in der erforderlichen Qualität und Quantität bereitzustellen. Weiterhin geht es darum, diese Quantitäten in einem relativ kurzfristigen Zeitfenster zu beschaffen, um schnell eine konventionelle Verteidigung aufzubauen.
Wenn Sie jetzt die unterschiedlichen Streitkräfte-Reformen in den verschiedenen EU-Mitgliedstaaten beobachten – wo gibt es Nachholbedarf?
Der Nachholbedarf ist allen europäischen Streitkräften gemeinsam. Wir hatten nach dem Ende des Kalten Krieges eine lange Phase der Abrüstung – Stichwort „Friedensdividende“. Es gab andere Prioritäten. Und jetzt sind wir mit einer geopolitischen Wende konfrontiert. Die europäischen Mitgliedstaaten müssen wieder mehr für Verteidigung, Sicherheit und Resilienz tun und eben nicht nur Krisenmanagement außerhalb Europas im Fokus haben, sondern auch die territoriale Verteidigung des Kontinents. Hier liegt eigentlich der große Wandel. Alle europäischen Streitkräfte befinden sich derzeit in einem Transformationsprozess, dessen Ziel es ist, die notwendigen Änderungen vorzunehmen.
Welche Bedeutung fällt der Rüstungsindustrie für die europäische Sicherheitspolitik zu? Inwieweit wäre eine weitere Konsolidierung der europäischen Rüstungsindustrie sinnvoll?
Die Rüstungsindustrie spielt eine ganz wesentliche Rolle, gerade in Zeiten großen Nachholbedarfs. Ihr Unternehmen Reinmetall nimmt neben anderen eine prominente Position ein. Doch auch die Kooperation mit Zulieferern sowie mit kleinen und mittleren Betrieben spielt im Hinblick auf die Wertschöpfungsketten eine Rolle. Rüstung sollte in einem entsprechenden europäischen und regional ausbalancierten Rahmen erfolgen.
Da jeder Krieg zweifellos ein absoluter Beschleunigungsfaktor für militärtechnologische Entwicklung ist, stehen wir vor der Herausforderung, dass wir uns für den Krieg von morgen vorbereiten müssen und nicht auf den von heute. Wir müssen antizipieren. Die Erwartungshaltung des Militärs an die Rüstungsindustrie ist daher, dass sie die „End-User-Perspektive“ berücksichtigt. Und sie soll das liefern, von dem wir erkannt haben, dass wir es für die Zukunft brauchen.
Aus meiner Sicht strebt die Europäische Kommission schon eine weitere Konsolidierung der Verteidigungsindustrie an – im Sinn einer besseren Vernetzung. Erstrebenswert wären eine stärkere Vereinheitlichung und Standardisierung. So ließe sich die Gerätevielfalt reduzieren, in die Produktion könnten mehrere Akteure eingebunden werden und Rüstungsgüter wären schneller verfügbar. Ebenso wäre es sinnvoll, unsere Abhängigkeiten zu verringern.
Herr General, gibt es aus Ihrer Sicht noch eine Herzensbotschaft, die Sie unseren Lesern weitergeben wollen?
Was wir für die Zukunft brauchen, ist ein „europäischer Spirit“. Wir können durchaus stolz auf das Erreichte sein und mit Selbstbewusstsein den Herausforderungen der Zukunft entgegensehen. Das vereinte Europa ist ein singuläres Projekt und bisher doch eine sehr respektable Erfolgsgeschichte. Diese gilt es, konsequent weiterzuführen.
Das Interview führte Dr. Jan-Phillipp Weisswange.
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