Gute Frage
15. Oktober 2024
6. Oktober 2024
Als Botschafter Oleksii Makeiev im Februar 2024 zum Spatenstich für eine neue Munitionsfabrik an den Rheinmetall-Standort Unterlüß gekommen war, sagte er mit Blick auf Wochenendschichten: „Und für diese Überstunden danke ich recht herzlich jedem. Vielleicht ein paar Überstunden heute sind Gründe dafür, dass meine Mutter in Kyjiw noch am Leben ist.“
OLEKSII MAKEIEV,
Jahrgang 1975, ist seit Oktober 2022 Botschafter der Ukraine in der Bundesrepublik Deutschland.Bereits während seines Studiums der internationalen Beziehungen begann der in Kyjiw geborene Diplomat seine Laufbahn im Außenministerium der Ukraine. Nach Aufenthalten in Bern und Berlin wurde er 2014 – im Jahr der russischen Annexion der Krim – zum politischen Direktor des ukrainischen Außenministeriums ernannt. In den Folgejahren beschäftigte er sich mit Strategien zur Abwehr der russischen Aggression im Cyberspace und koordinierte internationale Bemühungen, die russische Wirtschaft durch Sanktionskoalitionen zu schwächen. Als Autor veröffentlicht Oleksii Makeiev regelmäßig Publikationen zu internationalen Sicherheitsfragen und Außenpolitikanalysen.
Herr Botschafter, eine persönliche Frage zu Beginn: Wie geht es Ihrer Mutter, wie geht es Ihrer Familie in der Ukraine?
Es geht ihnen wie allen Ukrainern. Ich habe meine Mutter nun für einen Monat nach Deutschland geholt, damit sie sich ein wenig erholen kann. Für zuhause werde ich ihr einen Ecoflow mitgeben: einen sehr großen Akku, der hilft, Stromausfälle zu überbrücken. (Der Botschafter zeigt eine App, wie sie viele Ukrainer auf dem Smartphone haben.)
Schauen Sie: Heute gab es dort in Kyjiw nur morgens für zwei Stunden Strom und nochmal je zwei Stunden mittags und vor Mitternacht. Das ist die traurige Realität in der Ukraine.
Von hier nach Kyjiw sind es nur 1.300 Kilometer. Denken Sie, in Deutschland hat man ein Bewusstsein für die Nähe dieses Krieges?
Es gibt eine tolle Solidarität der deutschen Bevölkerung mit meinem Land und den ukrainischen Schutzsuchenden hier. Auch wenn die Menschen dazu neigen, das Böse nicht an sich heranzulassen und die Augen zu verschließen. Das ist verständlich. Mein Anliegen ist es immer wieder, auch den Skeptikern zu erklären, worum es geht. In der Ukraine gibt es niemanden, den der Krieg nicht betrifft – und das sollen die Menschen hier wissen.
Der brutale Überfall Russlands auf Ihr Land liegt nun über zwei Jahre zurück – aus deutscher Sicht. Wann hat der Krieg für Sie begonnen, wie haben Sie ihn erlebt?
Der Krieg hat 2014 mit dem Überfall auf die Krim begonnen. Ich erinnere mich gut, wie ich damals in meiner Funktion als politischer Direktor bei der NATO und der EU an viele Türen geklopft habe – niemand wollte ernsthaft handeln. Das Appeasement, das Festhalten an Nordstream 2 und die schwachen Sanktionen haben Russland nur darin bestätigt, die Aggression weiter voranzutreiben. Und was wir seit Februar 2022 in unserem Land erleben, ist für die Ukrainer der Dritte Weltkrieg.
Am Anfang standen 5.000 Helme, die Deutschland der Ukraine zugesagt hat. Jetzt sind wir viel weiter: Allein Rheinmetall hat über zweihundert Panzer und Lkw, hunderttausende Schuss Munition, Flugabwehr und vieles mehr an die Ukraine geliefert. Wie zufrieden sind Sie mit der Entwicklung?
Ich bin dann zufrieden, wenn unsere Soldaten an der Frontlinie sagen: „Wir haben alles, was wir brauchen.“ Ohne Munition kann dieser Krieg nicht gewonnen werden, ohne gepanzerte Fahrzeuge und moderne Technologien auch nicht. Ohne Flugabwehr können wir unsere Bevölkerung nicht schützen. Das alles brauchen wir, und Deutschland leistet hier wirklich sehr viel. Deutschlands Führungsrolle zeigt sich in der Panzerkoalition, der wir die Leopard-Kampfpanzer verdanken. Drei Patriot-Systeme aus Deutschland, Iris-T-Systeme und auch die Skynex-Flug-abwehr von Rheinmetall helfen uns zudem, die Menschen in der Ukraine zu schützen und Tausende von Leben zu erhalten.
Wie ist die Situation an der Front?
Jeden Tag gibt es gute wie auch schlechte Nachrichten. Gute Nachrichten, wenn wir Attacken abwehren können und vorrücken oder wenn wir Raketen unschädlich machen. Aber jeden Tag gibt es tote Zivilisten und Soldaten. Vor zwei Wochen ist ein guter Freund unserer Familie in Charkiw gefallen. Jeder in der Ukraine hat schon mindestens einen nahestehenden Menschen verloren. Unser Präsident sagt: „Wir brauchen jeden Tag einen kleinen Sieg.“ Jede Waffenlieferung ist ein Sieg, jedes Sicherheitsabkommen mit einem Land. Auch die Sympathien, die unsere Nationalmannschaft bei der Fußball-EM hier gewonnen hat, sind ein kleiner Sieg für uns.
Bei Rheinmetall erreichen uns Zuschriften von Kindern, die uns als Dank gemalte Bilder schicken. Die Motive berühren uns sehr, denn sie zeigen, wie allgegenwärtig der Krieg für die Kinder ist. Wie sehr leiden die Jüngsten?
Ich habe die Sorge, dass die Kinder für ihr ganzes Leben traumatisiert sind. In Charkiw haben wir Kinder, die in der zweiten Klasse sind und fast keinen Tag zur Schule gehen konnten – weil es dort keinen Luftschutzbunker gibt. Was Russland uns antut, das wird über Generationen in unserer Erinnerung bleiben. Das können wir nicht vergessen.
Ihre Großeltern haben noch die Zeit der deutschen Besatzung erlebt …
Ich erinnere mich, wie sie mir als Kind vom Leid unter den Nazis erzählt haben. Ich habe nach diesen Geschichten dann auch Bilder gemalt, und wir Kleinen malten „unsere“ Panzer immer rechts im Bild und die gegnerischen links. Ich weiß nicht, ob das die geographische Sicht war – heute ist es jedenfalls umgekehrt: Der Feind kommt auch auf den Kinderbildern von der anderen Seite. Kinder haben eine klare Sicht auf die Dinge.
Die älteren Ihrer Mitbürger erleben nun zum zweiten Mal, wie ihr Land überfallen wird.
Meine Großmutter ist vor der großen Invasion 2022 gestorben, und ich mag mir nicht vorstellen, wie sie es heute empfinden würde, ein zweites Mal Bombenterror zu erleben – diesmal aus dem Osten. Wenn meine 24-jährige Tochter einmal Enkel hat, wird sie ihnen Ähnliches berichten müssen – von Nächten im Luftschutzkeller, von Angst und Zerstörung. Damals waren es deutsche Nazis, achtzig Jahre später sind es heute russische Nazis.
Der deutsche Pazifismus und die militärische Zurückhaltung wurden immer mit den Lehren des Zweiten Weltkriegs begründet. Vor allem aber in der Ukraine haben Deutsche damals schreckliche Verbrechen begangen, großes Leid und Zerstörung über das Land gebracht. Wie schwer wiegt die deutsche Schuld?
Ich bin froh, dass eine ehrliche Diskussion darüber in Gang gekommen ist. Es gab zwei Länder, die damals vollständig besetzt waren – Belarus und die Ukraine. Beide Länder haben einen erheblichen Beitrag im Kampf gegen Hitler-Deutschland geleistet. Und das wird langsam verstanden und anerkannt.
Für mich geht es nicht um Schuld, sondern um Aufarbeitung deutscher Verantwortung. Und diese Verantwortung ist sicher ein geeigneter Antrieb für die Unterstützung, die mein Land heute braucht. Ich freue mich sehr, dass die Deutsch-Ukrainische Historikerkommission sich des Themas angenommen hat. Auch Bundestagspräsidentin Bärbel Bas hat sich erfreulicherweise eindeutig geäußert.
In Deutschland wollte man lange Zeit wenig wissen von der Ukraine, von ihrer Kultur und ihrem Schicksal. Wer reiste schon nach Odessa, Lwiw oder Kyjiw. Welche Veränderung stellen Sie fest, wenn es um die Verbindung der beiden Länder zueinander geht?
Da ist großes Interesse gewachsen. In den vergangenen eineinhalb Jahren sind allein rund 200 Städte- und Gemeindepartnerschaften entstanden. Besonders freue ich mich auch über die sieben Regional-Partnerschaften, die auf Ebene der Bundesländer getroffen werden – zum Beispiel zwischen Nordrhein-Westfalen und dem Oblast Dnipro, zwischen Schleswig-Holstein und Cherson oder Bremen und Odessa. Das ist eine tolle Entwicklung, die sehr tief wirkt und die Menschen beider Länder zueinander führt und dauerhaft verbindet. Daran wird deutlich, dass wir Ukrainer Europäer sind und zur Familie gehören.
Vor Kurzem haben die Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union begonnen. Wie reif ist die Ukraine für die EU?
Gesellschaftlich sind wir reif. Es gibt kein anderes Land in der EU, das Menschenleben für den europäischen Traum geopfert hat. Während der Revolution der Würde haben Hunderttausende auf dem Maidan-Platz gestanden für ihr Recht, im geeinten Europa zu leben. Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist aber auch mit einer Fülle technischer Fragen verbunden, und dafür beanspruchen wir keinen Sonderrabatt. Wir wollen alle Regeln und Paragrafen erfüllen, sowohl für die EU wie auch für die NATO. Man sollte sie uns aber nicht als unüberwindbare Hürden vorsetzen. Wir erwarten Hilfe, damit wir die Kriterien schneller erfüllen können.
Auch im Interesse der westlichen Partner?
Sicher. Es ist im Interesse der Europäischen Union, den Raum der Stabilität zu erweitern. Es ist im Interesse der NATO, die modernste und erfahrenste Armee im Bündnis zu haben – auch wenn andere militärische Hilfe brauchen sollten. Wir bringen viel mit.
Bei unserem letzten Besuch bei Ihnen hier in der Botschaft haben wir einen Blick auf Ihre Wunschliste werfen dürfen: Panzer, Patriot, Flugabwehr, Munition … Konnten Sie mittlerweile an alle Posten einen Haken machen?
Sehr vieles wurde oder wird geliefert, bald auch das Artilleriesystem RCH155 auf Boxer sowie wichtige Begleitfahrzeuge mit 30mm-Kanone von Rheinmetall. Wir sind dankbar für die Artilleriegranaten und die Gepard-Munition von Rheinmetall, Marder und Leoparden, Aufklärungssysteme, logistische Fahrzeuge und vieles mehr. Weiteren Bedarf haben wir bei vielen anderen Systemen wie zusätzlichen Kampf- und Schützenpanzern und natürlich immer noch bei der Flugabwehr.
Deutschland hat eine internationale Initiative gestartet, um den dringenden Bedarf der Ukraine bei der Flugabwehr zu decken. Wie bewerten Sie die Zögerlichkeit vieler Länder, sich daran zu beteiligen?
Ich konzentriere mich als Botschafter in Berlin vor allem auf die Überzeugungsarbeit in Deutschland, was keine einfache Aufgabe ist. Man darf keine Sekunde pausieren. Im Scherz sage ich manchmal, dass ich eigentlich drei Rollen habe – Diplomat, Waffenhändler und auch Psychologe. Denn ich muss meinen Gesprächspartnern immer wieder auch Ängste nehmen und sie motivieren.
Ich freue mich, dass Deutschland jetzt die Führungsrolle übernommen hat – auch bei der Flugabwehr. Wichtig ist mir, dass Hilfe an die Ukraine nicht aus Mitleid geleistet wird. Es liegt im ureigensten Interesse aller EU- und NATO-Mitglieder, der Ukraine zu helfen. Und dafür bräuchte es nicht nur, was man übrig hat, sondern das, was zur Verfügung steht.
Das alles kostet viel Geld. Wie nehmen Sie die deutsche Debatte um Verteidigungsausgaben wahr?
Für die Menschen in Deutschland ist Sicherheit etwas Selbstverständliches, es ist alltäglich. Doch ich sage: Wenn du ins Bett gehen kannst, ohne Angst zu haben, von einer Luftalarmsirene geweckt zu werden oder von einer Bombe oder Rakete getötet zu werden – dann ist das im Grunde unbezahlbar, aber es kostet Geld.
Daher muss mehr investiert werden, in die Bundeswehr wie auch in die Abwehr des russischen Angriffs auf Freiheit und Demokratie. Russische Raketen müssen im ukrainischen Himmel unschädlich gemacht werden, bevor sie eines Tages auch in Richtung Deutschland fliegen. Ja, das alles kostet Geld, das dann womöglich für Sozialausgaben nicht zur Verfügung steht.
Denken Sie, die Öffentlichkeit hat dafür Verständnis?
Wir brauchen einen ernsthaften und ehrlichen Dialog. Es gibt immer noch eine Riesenlücke zwischen der Sicherheits- und Rüstungsindustrie und der Bevölkerung. Die Menschen müssen aber begreifen, dass die Rüstungsunternehmen einen wichtigen Beitrag dafür leisten, dass sie ruhig schlafen können.
Bei Rheinmetall wird nach Kräften für die Ukraine gearbeitet. Jüngst gab es aber Kritik aus dem politischen Bereich, dass die Reparatur von Kampffahrzeugen der Armee zu lange dauere. Sehen Sie das auch so?
Es dauert alles viel zu lange. Jeder Tag kostet Menschenleben. Wir haben keine Zeit. Aber gerade die deutschen Rüstungsunternehmen sind Vorboten der guten Industriebeteiligung Deutschlands im Wiederaufbau der Ukraine und in ihrer Verteidigung. Von Anfang an war klar, dass es ein riesiges logistisches Problem ist, wenn eine Panzerhaubitze 2000 zur Reparatur gebracht werden muss und die Werkstatt in Kassel 2.500 km entfernt ist. Wenn ein Leopard 2-Panzer beschädigt wird, dann fehlt er im Kampf – das ist klar. Also brauchen wir Joint Ventures wie das mit Rheinmetall, damit in der Ukraine repariert und produziert werden kann. Das geht aber nicht von heute auf morgen.
Was sagen Sie Menschen, die Waffenlieferungen in die Ukraine ablehnen und nach einer Verhandlungslösung rufen?
Das einzige Land, das ein sofortiges Kriegsende einleiten kann, ist Russland – indem es seine Truppen zurückzieht und sagt „Es war ein Fehler“. Doch Russland ist weit davon entfernt. Wir müssen unsere Freiheit verteidigen. Pazifismus schafft keinen Frieden. Der Frieden muss erkämpft werden und er muss verteidigt werden. Demokratie muss bewaffnet sein, besser als die Autokratie und der Aggressor.
Was muss aus Ihrer Sicht geschehen, damit der Krieg zu Ende geht?
Es gibt niemanden auf der ganzen Welt, der mehr als wir Ukrainer Frieden will. Wir wollen sonntagmorgens ohne Sirenengeheul aufwachen und unbehelligt Brötchen holen können. Wir wollen keine Raketen an unserem Himmel. Die zurückliegende Friedenskonferenz in der Schweiz legt einen wichtigen Grundstein dafür, dass die Welt sieht: Unsere Vorschläge basieren auf internationalen Dokumenten wie der UN-Charta. Jedes Land hat das berechtigte Interesse, in Sicherheit zu leben ohne Angst, von einem Nachbarn überfallen zu werden.
Für Friedensverhandlungen brauchen wir eine starke Verhandlungsposition. Wir sind erst am Anfang des Friedensprozesses, denn zuerst müssen die Russen die besetzten Gebiete verlassen.
Der Krieg schlägt tiefe Wunden. Wird danach jemals wieder ein gedeihliches Leben in friedlicher Nachbarschaft möglich sein?
Da muss es sehr viel Aufarbeitung geben, wie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg auch. Wichtig ist mir, dass Russland für seine Kriegsverbrechen bezahlen muss. Ich spreche auch ausdrücklich nicht von Putins Krieg – Russland führt Krieg gegen uns. Dieser Krieg wird von der russischen Bevölkerung mitgetragen. Die Kriegsverbrechen werden von Russen begangen, aber das Land ist weit davon entfernt, dies zu erkennen.
Auch nach dem Krieg wird ein hochgerüstetes Russland Ihr Nachbar im Osten sein …
Leider gibt es noch keinen Anknüpfungspunkt für ein künftiges Miteinander. Heute überwiegt die imperialistische Haltung bei den allermeisten Russen. Wie viele Jahre müssen vergehen, bis Russland einen demokratisch gewählten Präsidenten hat? Einen Präsidenten, der in die Ukraine kommt und sich – wie damals Willy Brandt in Warschau – am Denkmal für die gefallenen ukrainischen Soldaten niederkniet, der sich der Verantwortung stellt und der Aufarbeitung dessen, was Russland uns angetan hat? Ich weiß es nicht. Ich sehe diese Perspektive aktuell nicht.
Herr Botschafter, wir wünschen Ihnen und Ihrem Land alles Gute. Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Oliver Hoffmann.
Klicken Sie hier, um Push-Benachrichtigungen zu empfangen. Durch Ihre Einwilligung erhalten Sie regelmäßige Informationen zu neuen Beiträgen auf der Dimensions-Webseite. Dieser Benachrichtigungsservice kann jederzeit in den Browser-Einstellungen bzw. Einstellungen Ihres Mobilgeräts abbestellt werden. Ihre Einwilligung erstreckt sich ausdrücklich auch auf eine Datenübermittlung in Drittländer. Weitere Informationen finden Sie in unserer Datenschutzinformation unter Ziffer 5.