Neue Ära für das Bundesheer
9. Oktober 2024
30. April 2024
Seit der Annexion der Krim widmet Linda Mai ihr Leben der von ihr gegründeten Hilfsorganisation Blau-Gelbes Kreuz. Im Interview mit DIMENSIONS spricht die Vorsitzende des Deutsch-Ukrainischen Vereins über ihre Arbeit, über den Willen zum Widerstand und ihre bewegenden Erlebnisse während ihres letzten Hilfstransports in ihr vom Krieg zerstörtes Heimatland.
Linda Mai,
Jahrgang 1975, wuchs im Westen der Ukraine in einem kleinen Dorf auf und zog vor 20 Jahren nach Deutschland. Mit Ihrem bereits verstorbenen Ehemann gründete die Wahl-Kölnerin im Jahr 2014 den gemeinnützigen Verein „Blau-Gelbes Kreuz e.V. / Deutsch-Ukrainischer Verein“. Die studierte Pharmazeutin sagt: „Die Aufgabe habe ich nicht gesucht, sie hat mich gefunden. Das ist jetzt mein Leben“. Seit 2014 setzt sich Linda Mai zudem im Rahmen des Programms „Ferien ohne Krieg“ für ukrainische Waisenkinder und Verletzte ein und ermöglicht Ihnen einen kurzen Aufenthalt in Deutschland. Als Vorsitzende des Vereins koordiniert sie sämtliche Hilfslieferungen und verteilte diese vor Ort, auch in direkter Frontnähe.
Blau-Gelbes Kreuz e. V.
ist ein gemeinnütziger deutsch-ukrainischer Verein mit Sitz in Köln und Filialen in Düsseldorf, Bonn, Aachen und weiteren Städten in Deutschland. Bereits seit 2014 unterstützt die Organisation die Entwicklung einer freien, demokratischen Ukraine und leistet Hilfe für die Opfer des Krieges, insbesondere für Kinder, Binnenflüchtlinge, verletzte und andere stark bedürftige Menschen aus den vom Krieg betroffenen Regionen.
Seit dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine im Februar 2022 realisiert der Verein verschiedenste Maßnahmen, um den Ukrainern und ihrem Land Hilfe zu leisten. Dazu hat der Verein tonnenweise humanitäre Hilfsgüter in die Ukraine geliefert, darunter Rettungsfahrzeuge, medizinische Ausrüstung, Schulranzen und Care-Pakete für werdende Mütter.
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Blau-Gelbes Kreuz Deutsch-Ukrainischer Verein e.V.
Kreissparkasse Köln
IBAN: DE78 3705 0299 0000 4763 46
BIC: COKS DE 33 XXX
Neben Geld- und Sachspenden ist Blau-Gelbes Kreuz e. V. auch stets für helfende Hände dankbar. Weitere Informationen zu dem Verein sind hier zu finden.
Sie haben uns heute hier bei Rheinmetall diese wundervoll bemalte Gepard-Patronenhülse als Geschenk für die kürzliche Schulranzenspende des Konzerns an ukrainisches Kinder mitgebracht. Hergestellt wurde Sie bei uns, verschossen in der Ukraine. Welche Bedeutung hat diese Patrone für Sie?
Ja, die Patrone ist in der Tat wunderschön von einem Künstler bemalt worden. Aber für die Menschen in der Ukraine hat so eine Patrone eine besondere Bedeutung, denn sie rettet Leben. Ich war Ende Januar, Anfang Februar im Osten der Ukraine und habe Hilfsgüter in verschiedenen Städten verteilt. Die Zerstörungen sind unvorstellbar und übersteigen das menschliche Vorstellungsvermögen. Das war, bevor Awdijiwka fiel.
Mit dem Gepard bekommen wir die Drohnen effektiv abgewehrt. Fast alle Drohnen werden damit abgeschossen. Wir haben immer wieder so viele Drohnenangriffe auf unterschiedliche Städte: Kyjiw, Odessa, Cherson. Vor allem die Hochhäuser werden getroffen. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um vor allem den Rheinmetall-Mitarbeitern in der Munitionsproduktion meinen Dank auszusprechen. Ohne Ihre Arbeit könnten wir uns überhaupt nicht mehr effektiv verteidigen. Die Ukrainer unterhalten sich ganz anders über die Dinge, über die wir hier in Deutschland sprechen. Es geht immer nur darum, wie viele Menschen heute getötet werden und wie es den Verwandten an der Front geht.
Man spricht dort also nur noch über das Kriegsgeschehen?
Andauernd! Also ich arbeite jetzt zwei Jahre im Lager in Köln, in dem wir die Hilfsgüter verpacken. Mir fällt das natürlich hier in Deutschland viel stärker auf.
Was wurde denn von Ihrem Verein kürzlich in die Ukraine geliefert?
Vor allem medizinische Rucksäcke, Krankenwagen und Stromgeneratoren. Allerdings verlagern wir den Transport medizinischer Güter in handelsübliche Fahrzeuge, da die russische Armee die eigentlich völkerrechtlich geschützten Fahrzeuge als allererstes unter Beschuss nehmen. Sie haben erkannt, dass man damit am meisten Schaden anrichten kann.
Im Foyer haben Sie erzählt, wie ständig Luftalarm ausgelöst wurde. Wie haben Sie das vor Ort erlebt?
Die Erwachsenen reagieren mittlerweile gar nicht mehr. Aber Kinder gehen und müssen auch immer in die Schutzräume. Ich musste vor Ort mindestens einmal am Tag in die Keller. Oft gibt es aber bis zu elf tägliche Luftalarme. Die Kinder fangen dann immer an zu singen. Sie bekommen an den Treppen einen festen „Partner“ an die Hand. Das Ziel ist, dass ein „Panik-Partner“ einen Mitschüler, der relativ souverän mit dem Alarm umgeht, an die Hand bekommt. Natürlich sind viele Kinder auch traumatisiert. Die Erwachsenen beleuchten dann mit ihren Handys im Keller immer die dunklen Gänge. Man riecht diese muffig-feuchten Räume und ich selbst habe gar nicht bemerkt, dass mir die Tränen herunterliefen. Die Kinder hatten unten alles vorbereitet und überbrücken die Zeit des Luftalarms mit malen. Das sind unglaubliche Bilder, die die Kinder da zeichnen. So etwas habe ich noch nie gesehen.
Sie haben uns ja vor ein paar Tagen Bilder aus der Ukraine mitgebracht. Wir hier in der Pressestelle bei Rheinmetall waren auch sehr ergriffen, von dem was wir auf den Bildern gesehen haben.
Ja, ich meine, wie alt ist man in der vierten Klasse? 10 oder 11 Jahre? Kinder sollten in dem Alter eigentlich ganz andere Dinge malen. Zunehmend werden Panzer gemalt mit deutschen und ukrainischen Flaggen. Die Bomben, die fallen, werden immer mit russischen Farben ausgemalt. Bewegt hat mich vor allem ein Bild eines Kindes, das sich selbst gemalt hat. Es schaut aus dem Fenster nach draußen auf ein Schlachtfeld mit Panzern und auf brennende Häuser. Aber dahinter ist eine Traumlandschaft, in der das Kind mit seinen Eltern über grüne Wiesen läuft.
Was fehlt zurzeit in der Ukraine am meisten?
Ich war vor dem Krieg nie für Waffen. Aber Diktatoren kannst du einfach nicht anders stoppen. Waffen sind für uns das wichtigste. Und daran fehlt es…
Wir verlieren nicht nur Menschen und Territorien, sondern auch Hoffnung. Ich war in vielen Krankenhäusern hinter der Front. Viele junge Männer befinden sich dort mit amputierten Gliedmaßen. Sie haben mich immer wieder gefragt: „Wie oft sollen wir es noch beweisen, dass wir es können? Wir haben die Russen fast ohne Waffen gestoppt. Und jetzt nach zwei Jahren haben wir kaum mehr Möglichkeiten.“ Ganze Frontabschnitte müssen aufgrund von Munitionsmangel aufgegeben werden. Die Stimmung im Dezember war so gut, als die Europäische Union Beitrittsverhandlungen eröffnet hat. Das hat sich mittlerweile sehr stark gewandelt.
Jüngst gab es in Deutschland die Äußerung eines Politikers, den Konflikt einzufrieren, um ihn später beenden zu können. Wie wurde das in der Ukraine wahrgenommen?
(Mai schlägt die Hände über dem Kopf zusammen) Einfrieren? Also meine Meinung dazu ist ganz klar, ich muss mich entschuldigen, da ich nach zwei Jahren Krieg meine diplomatischen Fähigkeiten ziemlich eingebüßt habe. Was heißt „einfrieren“? Die Russen haben 2014 die Krim annektiert. Die sind doch nicht friedlicher geworden. Der Westen hat weiter mit Russland gehandelt. Und nun hat Russland erkannt: Das klappt! Und acht Jahre später hat man uns richtig überfallen. Was ich denke? Es ist ein Riesenfehler! Es gibt kein Grund für die Russen aufzuhören. Russland hat in der Vergangenheit alle Verträge gebrochen.
Im Jahr 2012 wurde einmal eine Umfrage in Auftrag gegeben, in der gefragt wurde, ob man bereit wäre, sein Land mit Waffengewalt zu verteidigen. In Deutschland haben nur 16 Prozent der wehrfähigen Bevölkerung dem zugestimmt. In der Ukraine waren es damals stolze 89 Prozent. Hat sich das heute verändert?
Der Wille, Widerstand zu leisten, wird trotzdem noch größer. Aber wie lange wollen wir warten, bis sich die Ukraine verteidigen kann? Bis zum letzten Ukrainer? Die Kinder, die jetzt malen, die wollen alle Verteidiger werden. Natürlich haben wir in jeder Nation Menschen, die fliehen und sich das nicht vorstellen können, ihr Land zu verteidigen. Aber auch sehr viele Frauen melden sich immer noch freiwillig.
Vor dem Gespräch haben Sie gesagt: „Jeder Ukrainer weiß, wie man einen Molotowcocktail baut.“
(Mai lacht) Ja, das stimmt. Jeder kann sich zu Hause nun selbst einen Molotowcocktail bauen. Die Menschen haben aus verlassenen Fahrzeugen das Benzin abgepumpt und sich daheim ganze Lager von Brandsätzen angelegt.
Man sieht, dass der Wille, Russland zu bekämpfen, in allen Altersschichten sehr stark ist. Bis hin zur totalen Selbstaufgabe. Mir sagte mal jemand: „Linda mache dir keine Gedanken, sie werden uns nicht halten können.“ Ich habe damals erwidert: „Ja, aber wir haben nicht genug Waffen.“„Aber wir haben Mistgabeln! Und jeder hat ein Messer zu Hause.“ Jede Bombe, die tötet, macht die Ukraine widerstandsfähiger. Das war mein Eindruck vor Ort.
Wie sicher haben Sie sich in Frontnähe gefühlt?
Wenn die ballistische Rakete kommt, dann kommt sie halt. Man hat wenig Zeit, in Deckung zu gehen. Die Menschen vor Ort sagen nur: „Halt die Luft an und zähle bis 60. Dann atmest du aus.“ Das ist alles.
Du musst bereit sein zu sterben. Jeden Tag. Damit lebst du.
Wie haben Sie Menschen erlebt, die in Dörfern gelebt haben, die russisch besetzt wurden?
Die Menschen, die unter russischer Besetzung gelebt haben, bei denen ist das Licht in ihren Augen wie erloschen. Die Stadt Sumy haben die Russen damals nicht einnehmen können, weil der Widerstandswille der ukrainischen Zivilbevölkerung zu groß war. Sie kamen mit ihren Fahrzeugen einfach nicht in die Stadt. Hätten wir früher die Waffen gehabt, die der Westen nun geliefert hat, hätte man damals die russischen Streitkräfte viel früher zurückwerfen können. Obwohl wir für die Lieferungen sehr dankbar sind, kamen sie damals zu spät in der Ostukraine an.
In den Frontabschnitten verlieren nicht nur Menschen ihr Leben, auch die Tiere verlieren ihren Lebensraum. Von einst stolzen Wäldern sind oft nur noch Baumstümpfe als stumme Zeugen einer brutalen Schlacht übrig. Die älteren Tiere sind oft geflohen oder umgekommen, aber ich habe auch ein interessantes Verhalten der jüngeren Tiere festgestellt. (Linda Mai zeigt stolz einige Videos auf ihrem Handy) Schauen Sie hier, das sind junge Wildschweine, Katzen und Hunde. Sie suchen die Nähe von Soldaten. Aber auch Enten und andere Tiere sind dabei.
(Im Video macht es sich eine kleine Ente im Bart eines Soldaten bequem. Zwei kleine Katzen kuscheln sich in der grünen Tarnjacke eines Soldaten auf seinem Bauch ein. Mensch und Tier ruhen sich aus.) Diese Tiere haben oft ihre Eltern verloren und suchen aus lauter Verzweiflung dann die Hilfe bei Menschen; denjenigen, durch deren Krieg sie ihren Lebensraum verloren haben. Das passiert auf ukrainischer und auf russischer Seite. Sie folgen der Armee, weil sie dort Futter bekommen. Einige angeleinte Hunde sind bei der Flucht der Menschen leider verhungert, aber viele freilaufende Hunde sind richtig satt; Dadurch, dass überall so viele Leichen liegen.
Was hat sich in den Menschen im Allgemeinen verändert?
Die Menschen gehen liebevoller miteinander um und wissen den gegenwärtigen Moment mehr zu schätzen. Über die Russen werden hingegen sehr, sehr schwarze Witze gemacht. Das war vor dem Krieg natürlich anders.
Lassen Sie uns doch zum Abschluss noch einmal zur Stadt Czernowitz im Westen der Ukraine kommen. Dort hat Rheinmetall vor kurzem 20.000 Euro für Schulranzen für ukrainische Kinder gespendet. Wie nehmen Sie in Ihrem Verein das Unternehmen Rheinmetall wahr?
Die Bilder, die ich an Euch damals geschickt habe sprechen Bände. Die Kinder waren die stolzesten, die ich je gesehen habe. Rheinmetall hat in der Ukraine mittlerweile einen Kultstatus erreicht. Ich möchte im Namen der Kinder und des Vereins noch einmal meinen ausdrücklichen Dank dafür aussprechen.
Was möchten Sie den Entscheidern in Industrie und Politik noch sagen?
Wir können mit unserer humanitären Hilfe Menschenleben retten, also mit unseren Medizinrucksäcken; aber das was Ihr macht, das können wir nicht. Hätten wir mehr davon (Waffen, Anm. der Redaktion), hätten wir nicht so viel humanitäre Hilfe leisten müssen. Wir müssen uns verteidigen können. Nicht nur die Menschen, sondern auch die Demokratie. Der politische Wille muss da sein. Wenn der Konflikt eingefroren wird, dann sind wir hier alle – auch in Deutschland – in Gefahr. Wohin soll sich die Demokratie noch zurückziehen? Das wird Schule machen. Dann haben wir bewiesen, dass es sich lohnt, Kriege zu führen. Dann hat die Demokratie vielleicht ganz verloren.
Frau Mai, vielen Dank für das Interview und bleiben Sie sicher auf Ihren lebensrettenden Fahrten in die Ukraine!
Das Interview führte David Ginster.
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