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Zeitenwende – wo stehen wir?

7. Oktober 2024 - von Björn Müller

Deutschland muss seine Außen- und Sicherheitspolitik so massiv umgestalten wie seit dem Auftakt des Kalten Krieges nicht mehr. Ein Blick auf den Stand der Zeitenwende.

Stärke

„Unser Europa kann sterben, wenn wir die falschen Entscheidungen treffen.“ In seiner Rede vor der Dresdner Frauenkirche im Mai 2024 hielt der französische Präsident Emmanuel Macron ein Plädoyer für ein starkes und souveränes Europa. Frieden, Wohlstand und Demokratie seien bedroht, wenn Europa nicht handele. Unumstritten ist: Die Europäer müssen mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit übernehmen – und zwar unabhängig davon, ob Donald Trump erneut US-Präsident wird. Nicht nur mehr Investitionen in die Rüstung sind gefragt, sondern auch mehr Kooperation. Wichtiger Sicherheitsgarant bleibt die NATO. Ihre Waffenlieferungen und Ausbildungsaktivitäten für die Ukraine will sie künftig von Deutschland aus koordinieren. Wie ist es um unsere Kriegstüchtigkeit bestellt?

(Foto: iStock | rarrarorro)

1,5

Milliarden Euro

will die EU-Kommission aus ihrem Haushalt bis 2027 für die Stärkung der europäischen Verteidigung mobilisieren. Gleichzeitig werden die EU-Mitgliedstaaten ihre gesamten Verteidigungsausgaben bis 2025 um bis zu 70 Milliarden Euro gegenüber 2021 steigern. Deutschland erreicht 2024 erstmals die von der NATO ausgegebene Zwei-Prozent-Zielmarke.

(Foto: Adobe Stock | MoiraM)

181.514

Menschen in Uniform

leisten aktuell ihren Dienst in der Bundeswehr – Tendenz fallend. Was den deutschen Streitkräften fehlt, ist Masse. Denn wie der Ukraine-Krieg zeigt, entscheidet im Verteidigungsfall – neben der Technologie – insbesondere die Truppenstärke über den Verlauf von Kampfhandlungen. Um mehr junge Menschen für den Dienst an der Waffe zu begeistern, will Verteidigungsminister Boris Pistorius den Wehrdienst reformieren und damit jährlich 5.000 zusätzliche Wehrpflichtige gewinnen.

(Foto: iStock | acilo)

579

öffentliche Schutzräume

mit Platz für insgesamt knapp 480.000 Menschen existieren derzeit in Deutschland. Einsatzbereit sind die Relikte aus Zeiten des Kalten Krieges nicht. Angesichts der bedrohten Sicherheitslage in Europa ist der Zivilschutz wieder verstärkt in den Fokus gerückt. Um die erheblichen Defizite hierzulande zu beseitigen, sind wirksame Konzepte gefragt – und ein verändertes Bewusstsein in der Gesellschaft.

Als Russland im Februar 2022 über die Ukraine herfällt, bewertet Bundeskanzler Olaf Scholz das als „Zeitenwende“ für Deutschlands und Europas Sicherheitspolitik. Bis zum Beginn der offenen Invasion folgte die Bundesrepublik einer partnerschaftlichen Politik des „Wandels durch Handel“ gegenüber Russland. Mit diesem Ansatz sollten die „imperialen Phantomschmerzen“ der ehemaligen Weltmacht eingehegt und langfristig sediert werden. Nun muss die kooperativ angelegte deutsche Sicherheitspolitik für Abschreckung und Abwehr des Aggressors ertüchtigt werden. „Fünf Handlungsaufträge liegen nun vor uns“, so der Kanzler in seiner Zeitenwende-Regierungserklärung, drei Tage nach dem Überfall: ein wirksamer Beistand für die Ukraine. Das Putin-Regime von seinem Kriegskurs abbringen. Die NATO-Abschreckung gegen Russland sichern. Eine militärische Erneuerung der Bundeswehr. Flankierend müsse Deutschland zudem seine globalen Bündnisse und Partnerschaften stärken.

Deutschlands Waffenhilfe ist zentral für die Ukraine

Mit Blick auf den Beistand für die Ukraine hat sich Deutschland zum essenziellen Unterstützer entwickelt. Bei den bilateralen Hilfen liegt es an zweiter Stelle, hinter den Vereinigten Staaten und vor Großbritannien, so die laufende Erhebung des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel. Gerade der militärische Teil der deutschen Hilfe ist wichtig. Den Sockel der ukrainischen Flugabwehr bilden von Deutschland gelieferte Patriot- und IRIS-T-Systeme sowie die Flakpanzer vom Typ Gepard. Die Panzerhaubitze 2000 ist wesentlicher Bestandteil der Artillerie der ukrainischen Streitkräfte. Dritter Schwerpunkt sind die mechanisierten Kräfte, wo Deutschland Leopard-Panzer der Typen 1 und 2, Schützenpanzer Marder, Brückenlege- und Minenräumsysteme sowie Lkw für die Logistik bereitstellt. Zudem ist Deutschland zentraler Hub für die Ausbildungsmaßnahmen über die EU und die US-Streitkräfte für die Armee der Ukraine. Zuletzt verschärfte sich der ukrainische Mangel – gerade im deutschen Lead-Bereich Luftverteidigung – wegen der konsequenten russischen Kriegsführung. Deutschland hat die Intiative „Immediate Action on Air Defense“ gestartet, um mehr Systeme bereitzustellen.

Allerdings ist die Bundesrepublik ein „einäugiger König im Land der Blinden“. Denn die Waffenhilfe der Westmächte in Gänze ist am Bedarf der ukrainischen Abwehr gemessen ungenügend. Die Ukraine kommunizierte den EU-Mitgliedstaaten 2023 einen Jahresbedarf von drei Millionen Artilleriegranaten. Der Ausbau der europäischen Produktionskapazitäten erreicht 2025 die Zwei-Millionen-Marke, so die Schätzung der EU-Kommission. Die bleibende Herausforderung für Europa und damit für Deutschland ist es, die Waffenhilfe für die Ukraine in Masse zu erhöhen und besser zu strukturieren.

Seit Herbst letzten Jahres bilden die westlichen Alliierten der Ukraine dazu „Fähigkeitskoalitionen“. Diese Verbünde sollen die ukrainischen Teilstreitkräfte langfristig entwickeln, Systeme und deren Führung vereinheitlichen, beispielsweise im Artilleriekorps. Deutschland hat den Co-Lead in den Fähigkeitskoalitionen für Luftverteidigung, mechanisierte Kräfte sowie Drohnen und beteiligt sich an jenen für Artillerie, maritime Sicherheit, Minenräumung, Informationstechnik. Daneben gibt es den industriegetriebenen Ansatz, Joint Ventures mit der ukrainischen Wehrindustrie zu schließen, um deren Rüstung vor Ort zu stärken. Ein solches wurde beispielsweise im Beisein von Bundeskanzler Olaf Scholz und Ministerpräsident Denys Schmyhal im Oktober 2023 öffentlich vorgestellt. Zwischenzeitlich hat der erste Instandsetzungsstützpunkt unter dem Dach der Rheinmetall Ukrainian Defense Industry LLC in der Westukraine seinen Betrieb aufgenommen.

Russland setzt weiter auf Krieg

Der zweite Handlungsstrang der Zeitenwende, Russlands Diktator Wladimir Putin zur Aufgabe seines Ukraine-Krieges zu bewegen, erweist sich bis jetzt als fruchtloses Unterfangen. Hier sollten vor allem die massiven Sanktionen des Westens wirken. Jene sind zwar ein Ballast für die russischen Kriegsanstrengungen, bringen diese aber nicht zum Erliegen, wie noch zu Kriegsbeginn erhofft. Russland hat seine Wirtschaft ganz auf Rüstung umgestellt. Es hat seinen Wehretat in diesem Jahr auf massive sechs Prozent des BIP erhöht. Im Frühjahr wurde der Wirtschaftsfachmann Andrej Beloussow Verteidigungsminister. Sein Auftrag: Russlands Rüstung optimieren, um einen langen Krieg zu bestehen.

Auch die Westmächte bauen ihre Verteidigungsausgaben aus. Hier hat Deutschland aufgeschlossen. Die 2014 in der NATO festgelegte Zielmarke von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigungsausgaben erreichte die Bundesrepublik erst eine Dekade später, nämlich in diesem Jahr – mit dem Hebel des 100 Milliarden Euro Sondervermögens für die Bundeswehr. Seit dem Vilnius-Gipfel der Allianz 2023 gelten die zwei Prozent nicht mehr als Zielmarke, sondern als Mindestaufwendung. Ob Deutschland dies über einen Ausbau des Wehretats abbilden kann, muss sich noch zeigen. Das Sondervermögen ist fast in Gänze gebunden und dürfte spätestens 2027 verausgabt sein. Die jüngste Steuerschätzung erwartet bis dahin deutlich geringere Staatseinnahmen. Bemerkenswert ist, dass inzwischen alle Ressorts, egal ob sie für Einsparungen oder Ausgaben kämpfen, das Sicherheitsargument bemühen. So wehrte sich Entwicklungshilfeministerin Svenja Schulze (SPD) gegen Kürzungen ihres Etats mit dem Verweis darauf, Entwicklungszusammenarbeit sei aus sicherheitspolitischen Gründen wichtig. Finanzminister Christian Lindner (FDP) positionierte sich gegen eine Lockerung der Schuldenbremse mit der Aussage, „die finanzielle Resilienz des Staates ist ein Faktor von Sicherheit“.

Vorreiter beim Aufbau europäischer Großverbände

Blickt man auf Handlungsstrang Nr. 3 der Zeitenwende – den Ausbau der NATO-Abschreckung gegen Russland –, ist Deutschland sogar Vorreiter. Es versucht, über die European Sky Shield Initiative eine europäische Luftverteidigung aufzubauen. Die Bundeswehr stellt die Panzerbrigade 45 in Litauen auf. Damit ist Deutschland neben Polen die erste von Europas Militärmächten, die dem sogenannten New Force Model der NATO Rechnung trägt. Es sieht eine Vorneverteidigung der Ostflanke über kampfstarke Großverbände vor. Diese gilt gerade mit Blick auf die baltischen Bündnismitglieder als essenziell, da jene – anders als die Ukraine – über keine räumliche Tiefe verfügen, um potenzielle Angriffe Russlands auffangen zu können. Andere zentrale NATO-Streitkräfte wie jene Großbritanniens und Frankreichs verstärken bis dato lediglich ihre Entsendekapazitäten an die Ostflanke. Eine militärische Selbstbefähigung ist für Deutschland und Europa auch mit Blick auf die USA Teil der Zeitenwende. Bisher stellen jene 70 Prozent der Kapazitäten der NATO. Die Blockade-Haltung der Republikaner gegen die Ukraine-Waffenhilfe und eine mögliche zweite Trump-Präsidentschaft zeigen, wie unwägbar Führung und Rückendeckung der westlichen Vormacht inzwischen sind.

Mit der kompletten Integration des niederländischen Heeres hat die Bundeswehr als erste Armee eine Grundlage zum Aufbau multinationaler Großverbände der Europäer geschaffen. Rein national lassen sich die Kräfte nicht abbilden, welche die NATO für eine wirksame Abwehr als notwendig erachtet. Die Allianz wird die Anzahl der bisher zehn NATO-Korps erhöhen. Alle Korps sollen mit drei Divisionen hinterlegt werden. Die Korps werden auf die geplanten NATO-Regionen Nord, Zentrum und Süd verteilt. Jedes Korps steht unter der Leitung einer Rahmennation wie Deutschland.

Stärkung der NATO-Ostflanke: Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius verabschiedet im April 2024 auf dem Flughafen Berlin Brandenburg rund 20 Soldaten des Vorkommandos der Brigade Litauen. Bis Ende 2027 soll die unter dem Namen Panzerbrigade 45 neu aufgestellte Truppe einsatzbereit sein. (Foto: picture alliance / photothek.de | Thomas Imo)

Die Litauen-Brigade ist somit nur ein erster Beitrag. Deutschland wird weitaus mehr leisten müssen. Die Militärplaner der NATO erwarten mehr Kampfunterstützung und Logistik auf Korps- und Divisionsebene. „Verbündete wie Deutschland müssen hier mehr investieren“, so Angus Lapsley, stellvertretender NATO-Generalsekretär für Verteidigungspolitik und -planung, auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2024 gegenüber dem Autor. Der Generalinspekteur der Bundeswehr Carsten Breuer betonte beim Abschluss der Verlegeübung „Quadriga 2024“ in Litauen, dass die Bundeswehr bis 2029 kriegstüchtig sein müsse.

Drehscheibe Deutschland

Quadriga 2024 war die größte Übung deutscher Landstreitkräfte seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine. Etwa jeder sechste der 62.000 Heeresangehörigen war direkt an dem Stresstest beteiligt. Das Großmanöver bestand aus den drei Verlegeübungen Grand North, Grand Center und Grand South sowie der Abschlussübung Grand Quadriga im Mai 2024.

12.000

Soldatinnen und Soldaten


3.000

Fahrzeuge


30

Luftfahrzeuge

Ertüchtigung der Bundeswehr steht noch am Anfang

Doch der deutschen Rüstung fehlt noch das Volumen für eine langfristige Ertüchtigung der Bundeswehr – der vierte Handlungsstrang der Zeitenwende. Die Divisionen 25 und 27 für das New Force Model der NATO bis Ende der Dekade werden aus dem gesamten Heer alimentierte Großverbände sein. Der Aufbau von deren mobiler Flugabwehr für das Gefechtsfeld hat mit der Skyranger-Beschaffung einen ersten Baustein erhalten. Die zeitgemäße Luftverteidigung muss gerade gegen Drohnen wirksam sein. Deren Aufstieg als Kriegsmittel ist die militärische Entwicklung unserer Zeit schlechthin. Doch gerade für Drohnen gibt es noch kein Rüstungskonzept bei den deutschen Streitkräften.

Die Artillerie zeigt sich im Ukraine-Krieg erneut als Königin der Schlachten. Ihre Erneuerung und ihr Ausbau stehen bei der Bundeswehr noch aus. Die Militärplaner der Bundeswehr arbeiten noch an der Anpassung des Fähigkeitsprofils der Armee. Das bedeutet: In vielen Bereichen gibt es nur Ersatzbeschaffungen für Material, das an die Ukraine geht. Parallel dazu versucht Deutschland erfolgreich, Partnerarmeen zur Rüstung mit gemeinsamem Material zu gewinnen. Ein Beispiel ist der für Partner offene Rahmenvertrag für Leopard 2 A8. Diese Netzwerkrüstung mit dem Fokus auf kleinere Partner wie die Niederlande, Norwegen und Tschechien ist sinnvoll für den Aufbau europäischer Großverbände. Doch diese Art der Beschaffung ist auch kleinteilig und damit zeitaufwändig.

Neben dem Material ist das Personal die zweite große Herausforderung zum Aufbau einer Anlehnungsarmee für NATO- und EU-Partner, wie sie Deutschlands Militärkonzeption für die Bundeswehr vorsieht. Deren Zielstruktur von 203.000 Soldatinnen und Soldaten soll bis Anfang der 2030er Jahre befüllt sein. Doch der Aufwuchs steht aus. Die Truppenzahl stagniert seit Jahren bei leicht über 180.000. Wie die Rekrutierung gelingen soll, ist zentraler Teil der Zeitenwende-Debatte in Gesellschaft und Politik. Verteidigungsminister Boris Pistorius hat zuletzt öffentlich über eine neue Form der Wehrpflicht nachgedacht. Dies vor allem auch, um wieder verlässlich eine umfangreiche Reserve generieren zu können, so Pistorius im Mai 2024 auf dem parlamentarischen Abend des Reservistenverbands in Berlin. Der Bundesverteidigungsminister hat schließlich im Juni 2024 einen reformierten Freiwilligen Wehrdienst vorgeschlagen. Dieser soll über einen Pflichtfragebogen zur Musterung alle potenziell für einen Militärdienst offenen jungen Menschen erreichen.

Die Oppositionspartei CDU will im Fall einer Regierungsübernahme die ausgesetzte Wehrpflicht vorübergehend wieder aktivieren – als Kontingentlösung. Das heißt, alle jungen Deutschen eines Jahrgangs würden gemustert, die Bundeswehr holt sich daraus ihren Bedarf. Langfristig soll aber ein „verpflichtendes Gesellschaftsjahr“ kommen. In einem solchen Konzept steht nicht die Steigerung der Wehrhaftigkeit im Vordergrund, sondern eine bessere gesellschaftliche Resilienz. So ein Dienst kann auch bei anderen sicherheitsrelevanten Bereichen wie Katastrophenschutz und Rettungsdienst geleistet werden.

Als Teil der Übungsserie Quadriga 24 sichern Heimatschutzkräfte im Rahmen der Übung National Guardian 24 den Seehafen Rostock. (Foto: Bundeswehr | Anne Weinrich)

Großbaustelle Gesamtverteidigung

Das Zusammenspiel von Zivilschutz und militärischer Schlagkraft, die Gesamtverteidigung, ist weiterhin eine Großbaustelle der Zeitenwende. Laut der ersten nationalen Sicherheitsstrategie von 2023 leitet Deutschland seine militärische Bedeutung für die NATO maßgeblich von seiner Rolle als „logistische Drehscheibe der Allianz“ ab. Deutschland im Herzen des Kontinents ist der zentrale Hub, um Kräfte und Nachschub für die Ostflanke aufzunehmen und nach vorne zu verteilen. Das macht die Bundesrepublik zu einem naheliegenden Ziel russischer Angriffe im Kriegsfall und bereits jetzt für Sabotage wie Cyber-Attacken. Um Schutz und Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten, müsste in Infrastruktur mit redundanter Technik, Gesundheitsversorgung und Schutzmöglichkeiten investiert werden. Die Länder fordern dazu vom Bund zehn Milliarden Euro, verteilt über zehn Jahre. Bis dato ohne Erfolg.

Der Bund hat vor Kurzem immerhin neue Rahmenrichtlinien für die Gesamtverteidigung erlassen – die bisherigen stammten noch aus dem Jahr 1989. Bleibendes Prinzip für die Gesamtverteidigung ist ein Kooperationsföderalismus wie beim Katastrophenschutz, wo Bund und Länder ihre Ressourcen gegenseitig ergänzen sollen. Neu ist die Einbindung der privaten Wirtschaft, die inzwischen einen Großteil der kritischen Infrastruktur (KRITIS) betreibt, wie Rechenzentren und Datennetzwerke des Cyberraums. So verpflichtet die Richtlinie private Betreiber von KRITIS, „schnelle Reaktionsteams“ vorzuhalten. In diesem Kontext betont der Befehlshaber des Territorialen Führungskommandos der Bundeswehr Generalleutnant André Bodemann stets, „dass Verteidigung eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft ist.“

Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz hat mit der Bundeswehr ein „Gesamtszenario zivile Verteidigung“ entworfen, das den fiktiven Angriff eines Aggressors auf Deutschland und Europa durchspielt – nach den Erfahrungen des Ukraine-Krieges. Die Ableitungen daraus sollen bis zum Ende der Legislatur im Jahr 2025 die Konzeption zivile Verteidigung von 2016 erneuern. Die Bundeswehr hat inzwischen einen „Operationsplan Deutschland“ (OPLAN DEU) zur belastbaren Truppenverlegung im Kriegsfall erarbeitet. Wesentlicher Teil davon ist die Nutzung ziviler Ressourcen wie Tankstellen und Werkstätten durch die Bundeswehr. Im Herbst 2024 soll der OPLAN erstmals getestet werden. Vorteilhaft für den Aufbau einer Gesamtverteidigung wird sein, dass die Wertschätzung des Militärischen in der Gesellschaft sichtbar zunimmt. Ein prägnantes Beispiel dafür ist der Deutschen Volkssport Fußball, wo Rheinmetall vor Kurzem Sponsor des Bundesligisten Borussia Dortmund wurde. Die Entscheidung löste kontroverse Beiträge aus. Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck stellte fest: „Dass Rheinmetall jetzt einen Fußballverein sponsert, ist in der Tat erst einmal ungewöhnlich, aber es zeigt, wo wir stehen. Wir wissen und müssen es leider zugeben, dass wir in einer anderen, bedrohlicheren Welt sind.“

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(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | AP Photo)

Kooperation im Energiesektor

Während seiner Afrika-Reise besuchte Bundeskanzler Olaf Scholz unter anderem Nigeria – das bevölkerungsreichste und wirtschaftsstärkste Land des Kontinents. Bei seinem Treffen mit dem nigerianischen Präsidenten Bola Tinubu (l.) ging es konkret um die Frage, wie Deutschland seine Wirtschaftspartnerschaften in der energiereichen Region ausbauen kann.

Schwieriges Terrain: Die weltweite Stärkung von Bündnissen

Putins Aggression fordert nicht nur den Ausbau von Deutschlands und Europas Verteidigung. Global gehören Bündnisse dazu. Der Ukraine-Krieg verstärkt die geopolitische Dynamik einer Blockbildung zwischen den Westmächten und einem autoritären Lager um Russland und China. Dessen ökonomische Kraft ist der entscheidende Faktor, um Russland in seinem Invasionskrieg zu halten. Chinas Wirtschaft substituiert inzwischen einen Großteil der vom Westen sanktionierten Güter, die wichtig für die russische Rüstung sind, wie Elektronik-Komponenten. Deutschland muss weltweit Allianzen bilden und stärken, um dem Kriegsführer Russland Ressourcen zu entziehen und den Kriegsunterstützer China einzuhegen – Handlungsstrang Nr. 5 der Zeitenwende. Deutschland bezieht im Indopazifik sicherheitspolitisch zunehmend Stellung gegen Chinas Dominanzanspruch in der Region. So verstärkt es seit einigen Jahren Marine- und Luftwaffenentsendungen zu dortigen Partnern wie Australien. Das hat mit Blick auf China ein umfassendes Modernisierungsprogramm seiner Streitkräfte aufgesetzt. Eine Rüstungsallianz mit Deutschland im Landbereich ist Teil davon. Der kommende Schwere Waffenträger des Heeres, ein 8×8-Radpanzer der Boxer-Familie, wird in Australien von Rheinmetall produziert. Solche Wehrpartnerschaften waren bisher ein verfemtes Werkzeug für deutsche Außen- und Sicherheitspolitik. In Asien sollen sie nun dazu beitragen, dass Deutschland ein attraktiver Bündnispartner für Staaten bleibt, die sich gegen China behaupten müssen – erstmals angedeutet in den Indopazifik-Richtlinien der Bundesregierung von 2020. Allerdings hat sich Deutschlands Wirtschaft über drei Dekaden auf den riesigen chinesischen Markt ausgerichtet. Die von der Politik schon unter Kanzlerin Merkel angestrebte Diversifizierung von China weg steht noch am Anfang.

Das Reich der Mitte dominiert zudem den Handel mit den Ländern des „globalen Südens“ mit Asien, Afrika und Südamerika. Gute und enge Beziehungen zu diesen gelten den Westmächten inzwischen als entscheidend, um ihre regelbasierte Weltordnung zu behaupten. Doch Deutschlands Handel mit dieser Ländergruppe stagniert seit 2010 bei 3,6 Prozent, so das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln (IW) in einer Analyse. Russland dagegen baut seine wirtschaftlichen Beziehungen zum globalen Süden aus. Laut dem IW lag sein Marktanteil zuletzt bei 2,4 Prozent und damit doppelt so hoch wie vor Kriegsbeginn. In Afrika ist die Sicherheitspolitik Deutschlands und der Europäer nicht nur geschwächt worden, sondern kollabiert. Von dem Ansatz, mit der militärischen Ertüchtigung regionaler Partner und Allianzen die Sahelzone zu stabilisieren, ist nichts mehr übrig. Deutschland wollte mit dem Luftversorgungsstützpunkt Niamey im Niger den letzten europäischen Vorposten in dieser wichtigen Region halten, scheiterte aber damit. Die Europäer müssen ihr Engagement für Afrika nun von Grund auf neu aufbauen.

In der Gesamtschau auf Deutschlands Zeitenwende in der Außen- und Sicherheitspolitik zeigt sich, dass die fünf Handlungsstränge des Bundeskanzlers Fortschritte, Rückschläge und Stagnation aufweisen. Die Notwendigkeit ihrer Umsetzung ist dabei offensichtlich und wird künftige Bundesregierungen noch in der nächsten Dekade fordern.


Autor

Björn Müller

ist Redakteur bei loyal, dem Magazin für Sicherheitspolitik des Reservistenverbandes, und Militär-Fachjournalist in Berlin.

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