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Radeln gegen den Verkehrsinfarkt

1. Dezember 2022

Regelmäßig zur Rushhour stehen Autofahrer im Stau. Vor allem die Metropolen der Welt leiden unter dem täglichen Verkehrskollaps, der Zeit, Geld und Nerven kostet. Fahrradfreundliche Konzepte für Städte können Abhilfe schaffen. Inzwischen investieren immer mehr Kommunen in entsprechende Infrastruktur, die Ballungszentren lebenswerter macht.

Voll ist es zwar auf ­Utrechts Fahrradwegen, aber meistens „rollt es“. Wirklichen Stau gibt es hier selten.

120 Stunden pro Jahr verbringen Autofahrer in Deutschland im Stau. Und das ist nur der Durchschnittswert. Laut der Global Traffic Scorecard, die der US-amerikanische Anbieter von Verkehrsinformationen INRIX für weltweit mehr als 200 Städte erstellt, opfern Autofahrer in der deutschen Stauhauptstadt Berlin jährlich 154 Stunden ihrer Freizeit. Damit stehen sie im internationalen Vergleich allerdings noch gut da. In der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá beispielsweise, dem Spitzenreiter des Rankings, stecken Pendler 272 Stunden pro Jahr fest – mehr als elf Tage ihrer Lebenszeit. 

Umdenken in der Stadtplanung 

Die Staus fressen Arbeitszeit, belasten die Umwelt und die Gesundheit der Menschen. Allein in Deutschland summiert sich der volkswirtschaftliche Schaden laut INRIX auf rund 80 Mrd. EUR pro Jahr. Angesichts der zunehmenden Urbanisierung besteht Handlungsbedarf. Bis zum Jahr 2050 sollen mehr als 70 Prozent der Menschen in Städten leben. Die Zukunft der Megacitys hängt nicht zuletzt von ihrer nachhaltigen Stadt- und Verkehrsplanung ab.

Ein Teil der Lösung für ein integriertes, gut funktionierendes Verkehrssystem ist neben Kraftfahrzeugen und dem öffentlichen Nahverkehr das Fahrrad. Es eignet sich ideal für den Stadtverkehr. Denn in Städten, so sagt der Verkehrsclub Deutschland (VDC), sind 40 Prozent der Autofahrten kürzer als fünf Kilometer, zehn Prozent noch nicht einmal zwei Kilometer lang. Viele Autofahrer könnten also für Fahrten im Stadtverkehr problemlos vom Pkw aufs Fahrrad umsteigen. Das wäre oftmals nicht nur die schnellere Form der Fortbewegung, sondern auch leise und nachhaltig – was gerade die wachsenden Ballungszentren entlastet. Doch damit das auch geschieht, müssen Stadtplaner umdenken. 

Utrecht – ein Fahrrad-Dorado

Das zeigt zum Beispiel das niederländische Utrecht. Die Stadt mit rund 340.000 Einwohnern setzt seit einigen Jahren konsequent auf das emissionsfreie Verkehrsmittel. Die Verantwortlichen sind überzeugt: Nur so bleibt die schnellwachsende Universitätsstadt im Herzen der Niederlande für ihre Bürger lebenswert. Daher entwickeln sie Utrecht mit gezielten Investitionen zu einem Dorado für Radler. Dabei dominierte auch hier lange Zeit das Auto. Noch vor zehn Jahren führte eine mehrspurige Schnellstraße durchs Zentrum. In der Nachkriegszeit hatten die Stadtplaner dafür eine Gracht trockengelegt – nur einer von vielen Kanälen, die für den wachsenden Autostrom weichen mussten. 

Heute gibt es dort wieder Wasser und Grün, der mittelalterliche Stadtkern ist inzwischen nahezu autofrei. Radeln in Utrecht macht Spaß und ist auf vielen Strecken die schnellste Möglichkeit, von A nach B zu kommen. Aktuell gibt es im Stadtgebiet mehr als 350 Kilometer Radwege, -streifen und -straßen. Sie machen es Bürgern und Pendlern leicht, sich aufs Rad statt ins Auto zu setzen. Bei 43 Prozent aller Wege unter 7,5 Kilometern treten sie in die Pedale, im Zentrum werden sogar 60 Prozent der Wege mit dem Fahrrad zurückgelegt. In Berlin dagegen hat das Rad unter allen Verkehrsmitteln lediglich einen Anteil von 15 Prozent. 

Das größte Fahrradparkhaus der Welt

Angesichts von mehr als 125.000 Fahrradfahrern, die täglich in Utrecht unterwegs sind, kommt auf der Hauptverkehrsader der Verkehr bisweilen ins Stocken. Doch im Grunde kommen die Radler, die oftmals mehrspurig nebeneinander rollen, gut voran. Damit sie auf grüner Welle durch die Stadt gleiten können, gibt es vor vielen Ampeln interaktive Infosäulen, die ihnen anzeigen, ob sie einen Zahn zulegen oder das Tempo drosseln sollten. Für Neubürger spendiert die Stadt Unterricht bei Fahrradlehrern, sodass sie sich in Utrecht schnell zurechtfinden. Zum gut ausgebauten Rad- und Fußwegenetz gehört übrigens auch eine Brücke mit beheizter Fahrbahn, auf der sich der Amsterdam-Rhein-Kanal auch bei Eis und Schnee ohne Rutschgefahr überqueren lässt. 

Stichwort Sicherheit: Insgesamt 13 überwachte Parkplätze für Fahrräder bietet Utrecht aktuell, auch das größte Fahrradparkhaus der Welt steht hier. Direkt unter dem Hauptbahnhof bietet es auf drei Etagen derzeit 12.600 Stellplätze, bis 2020 sollen es 33.000 sein. Leuchtanzeigen weisen den Weg zu freien Parkplätzen, die ersten 24 Stunden sind kostenlos. Paradiesische Zustände für alle, die jemals im Metallchaos vor deutschen Bahnhöfen ihr Rad oder einen Stellplatz dafür gesucht haben. 

Cargobikes für die letzte Meile

Kein Wunder, dass Utrecht im Copenhagenize Index der fahrradfreundlichsten Städte der Welt den dritten Platz einnimmt – hinter Kopenhagen und Amsterdam. Die dänische Hauptstadt genießt als Fahrradstadt Weltruf, dicht gefolgt von ihrer niederländischen Schwester, in der es mehr Räder als Einwohner gibt. Alle drei Kommunen behaupten sich seit 2013 in wechselnden Positionen an der Spitze des alle zwei Jahre erscheinenden Rankings. Einzige deutsche Stadt in den aktuellen Top 20 ist Bremen. Die Hansestadt hat es 2019 erstmals in den Copenhagenize Index geschafft und liegt auf Platz elf nur knapp vor Bogotá. Die kolumbianische Stauhauptstadt landete durch ihr Engagement für Fahrradstraßen und den regelmäßigen autofreien Sonntag aus dem Stand auf dem zwölften Platz. Um gegen Staus, Lärm und Smog vorzugehen, setzen Stadtplaner und Mobilitätsexperten in aller Welt immer stärker aufs Fahrrad. 

Das größte Fahrradparkhaus der Welt steht direkt unter dem Hauptbahnhof Utrecht.

Damit auch Unternehmen und Gewerbetreibende bei innerstädtischen Touren aufs Rad umsteigen, werden vielerorts Cargobikes gefördert – auch Deutschland bietet Kaufprämien für Lastenräder mit Elektroantrieb an. Selbst Sharing-Angebote für die geräumigen Velos gibt es inzwischen. Sie können dank unterschiedlicher Aufbauten bei vielen Transporten das Auto ersetzen, etwa für die letzte Meile bei der Paketzustellung, bei Kurierdiensten und Anfahrten von Handwerkern. In Kopenhagen nutzt eine Bestatterin ein Cargobike sogar als Leichenwagen. Besser ausgebaute und breitere Radwege sind allerdings die Voraussetzung dafür, dass die Idee langfristig funktioniert.  

Copenhagenize Index
Der Copenhagenize Index zeigt an, wie fahrradfreundlich eine Großstadt ist. Er wird von der dänischen Copenhagenize Design Company durchgeführt und vergibt weltweit Noten an Städte mit mehr als 600.000 Einwohnern. Anhand von 13 Kriterien, wie Fahrradinfrastruktur, politisches Klima, Verkehrsberuhigung oder der Anzahl der Leihräder werden die Städte alle zwei Jahre einem Ranking unterzogen. Weitere Infos gibt es unter copenhagenizeindex.eu.

(Artikel ursprünglich vom 9. September 2019)

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