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Mit neuronalen Netzen zu mehr Artenschutz

18. August 2025

Was ursprünglich zur Flugabwehr von Drohnen und feindlichen Raketen entwickelt worden ist, hilft heute unter anderem, gefährdete Greifvögel vor Windrädern zu schützen. Mit seinem KI-basierten Antikollisionssystem AVES ist das Husumer Start-up ProTecBird führend in Europa – nicht zuletzt durch Softwarekomponenten von Rheinmetall.

(Foto: ProTecBird)

In nur drei Jahren hat Thorsten Heinzen, CEO von ProTecBird, in enger Kooperation mit Rheinmetall ein vollautomatisches KI-basiertes Antikollisionssystem auf den Markt gebracht. Die innovative technische Lösung fördert den Ausbau von Windkraftanlagen, ohne den Artenschutz zu gefährden.

Der Seeadler, Deutschlands Wappentier und Europas größter Greifvogel, bevorzugt als Nahrungsrevier Küsten und Seen. Brütet er in der Nähe eines Windparks, bedeutet das für die Betreiber nicht selten erhebliche finanzielle Verluste. Denn in dieser Zeit dreht sich kein einziges Windrad – und das von März bis September. Aufgrund der hohen gesetzlichen Auflagen sind pauschale Stilllegungen wie diese weit verbreitet.

Dass sich Artenschutz und der dringend benötigte Windkraftausbau nicht ausschließen müssen, beweist das in Husum ansässige Start-up ProTecBird. Das 2021 gegründete Unternehmen hat in enger Kooperation mit Rheinmetall in nur drei Jahren ein behördlich zertifiziertes Antikollisionssystem auf den Markt gebracht, das Windräder anlassbezogen drosseln kann, wenn schützenswerte Vögel wie Seeadler, Rotmilane, Wanderfalken oder Rohrweihen den drehenden Rotoren gefährlich nahekommen.

Im Visier: Vögel statt Drohnen

Herzstück der kamerabasierten Lösung ist eine Softwarekomponente, die bis dato ausschließlich im militärischen Bereich ihre Anwendung fand. Die Technologie stammt von Rheinmetall und funktioniert vereinfacht so: Befinden sich feindliche Drohnen oder Raketen im Anflug, kann die Software die Objekte durch komplexe Echtzeit-Bildverarbeitungsverfahren bereits von Weitem am Horizont automatisch detektieren, mittels mehrerer Kameras dynamisch nachverfolgen, klassifizieren und deren Flugbahn berechnen, um im Falle einer Bedrohung rechtzeitig einzugreifen. Durch ihre hochentwickelten Bildverarbeitungsalgorithmen lässt sich die Überwachungs- und Trackingsoftware von Rheinmetall vielseitig einsetzen: sei es in der Flugabwehr, in der Marine, in Gefechtsfahrzeugen – oder eben in Sachen Artenschutz.

Orchestrierung verschiedener ­Softwaremodule

Da Vögel anders als Drohnen oder Fahrzeuge ihre Form im Bruchteil einer Sekunde signifikant verändern und sehr agil ihre Bewegungsrichtung wechseln können, mussten die verschiedenen Entwicklerteams bei Rheinmetall eine Reihe von Softwareanpassungen vornehmen. Nicht nur an den Algorithmen und Tracking-Funktionalitäten: Auch die Interaktion mit der KI-basierten Artenerkennungssoftware und dem Anlagensteuerungssystem von ProTecBird erforderte gemeinsamen Programmierungs- und Integrationsaufwand.

Das Ergebnis der mehrjährigen Entwicklungsarbeit überzeugt. „Dank der Softwarekomponenten von Rheinmetall können wir mit unserem Antikollisionssystem AVES Vögel auf tausend Meter Distanz und mit einer Genauigkeit von annähernd 99 Prozent detektieren“, betont der CEO von ProTecBird, Thorsten Heinzen. Die an den Windrädern angebrachten Schwenk-Neige-Kameras sind alle miteinander vernetzt. Zoomt die nächstgelegene Kamera auf das Tier, startet die artspezifische KI. Die Software erkennt bereits bei rund 800 Metern Entfernung, um welche Vogelart es sich handelt. Ist sie schützenswert, ermittelt das integrierte Tracking-Modul die Flughöhe, die Flugrichtung und die Geschwindigkeit des Vogels. „Auf Basis der geobezogenen Daten berechnet unser System, ab welchem Zeitpunkt eine Kollisionsgefahr besteht“, erklärt Thorsten Heinzen. „Gleichzeitig drosselt AVES die betreffende Windkraftanlage, sodass sich der Rotor rechtzeitig im sogenannten Trudelmodus befindet.“ Denn bei 2,5 Umdrehungen pro ­Minute besteht laut Gesetzgeber kein Risiko mehr für den Vogel.

Stark gefragte Technologie

Die langjährige Expertise von Rheinmetall in der Entwicklung, Integration und Lieferung von Flugabwehrtechnologie ist stark gefragt – nicht nur von ProTecBird. Zusammen mit Diehl Defence und Hensoldt Sensors entwickelt der Düsseldorfer Rüstungskonzern für die Bundeswehr das neue Luftverteidigungssystem Nah- und Nächstbereichsschutz (LVS NNbS).

Über sechs Millionen Trainingsbilder

„Aus Hunderten von Vögeln in einem Windpark zuverlässig die schützenswerten zu entdecken und nachzuverfolgen, erfordert ein leistungsfähiges Gesamtsystem“, betont der CEO des Start-ups. Ausschlaggebend für den Erfolg sei insbesondere die Qualitätssicherung im neuronalen Netz. „Das Training des KI-Modells war und bleibt eine Kraftanstrengung“, weiß Thorsten Heinzen. ProTecBird beschäftigt mehrere Feldarbeiterteams, die Vögel jeglicher Art zu jeder Jahreszeit und bei jeder Witterung filmen. Am Firmenstandort in Husum erfolgt anschließend das sogenannte Labeln der Einzelbilder. 44 Mitarbeitende notieren hierbei auf den Screenshots nicht nur den Namen des abgebildeten Vogels, sondern auch, ob er als schützenswert gilt oder nicht. Um eine hohe Qualität des Trainingsmaterials zu gewährleisten, durchläuft jedes der gelabelten Bilder eine zusätzliche Prüfung durch einen zweiten Ornithologen. Über sechs Millionen Datensätze liegen bereits vor – viele weitere werden folgen.

Abschaltquote unter zehn Prozent

Welche handfesten wirtschaftlichen Vorteile AVES Windparkbetreibern eröffnet, zeigen die niedrigen Abschaltquoten, die sich laut des CEO nur noch zwischen zwei und neun Prozent bewegen. „Die innovative Überwachungs- und Tracking-Software unseres Technologiepartners Rheinmetall verschafft uns einen großen Wettbewerbsvorsprung“, betont Thorsten Heinzen. Obwohl sein Unternehmen erst drei Jahre am Markt agiert, hat das Start-up bereits in mehreren europäischen Ländern Kunden. An dem Antikollisionssystem „made in Germany“ zeigen Windparkbetreiber weltweit Interesse. Erst vor Kurzem konnte Heinzen in Litauen einen Großauftrag unter Dach und Fach bringen: die größte Windfarm des baltischen Staates mit einer Leistung von 300 Megawatt und hohen Artenschutzauflagen.

Ohne Cybersicherheit geht es nicht

Um für den Export keine aufwändigen Ausfuhrgenehmigungen einholen zu müssen, nutzt ProTecBird die Rheinmetall-Technologie in einer zivilen Variante. Sämtliche Komponenten, über die sich militärische Systeme anbinden ließen, sind darin entfernt. Dennoch: Ganz ohne Defensivmaßnahmen geht es nicht. Windparks gehören zur kritischen Infrastruktur. Da sich die Anlagen mit AVES stilllegen lassen, muss das System erhöhte Sicherheitsanforderungen gegen Hackerangriffe erfüllen. Und auch hier unterstützt der Technologiepartner das Start-up mit seiner IT-Expertise und einer neuen, bereits militärisch genutzten Cybersecurity-Software namens COAT.OS.

Gegen Vogelschlag an Triebwerken

Der Bedarf an Antikollisionssystemen wie dem von ProTecBird ist groß. Nicht nur bei Windparkbetreibern. Auch an Flughäfen kann die moderne KI-basierte Lösung ihr volles Potenzial ausspielen. Die Technologie sei die gleiche, erklärt Thorsten Heinzen, „nur, dass wir bei der Systemvariante AVES Airport keine Windräder drosseln, sondern eine dynamische Schallwand aufbauen, um mit Hilfe der Tracking-Software Vogelzüge in einem vorgegebenen Flugkorridor von der Start- und Landebahn wegzuleiten. Das Vergrämungssystem, das Beschädigungen durch Vogelschlag an den Flugzeugen verhindern soll, nutzt synthetische Schallsignale. Auf dem Flugfeld von Airbus in Hamburg-Finkenwerder ist es bereits erfolgreich im Einsatz. Ebenso wird das System aktuell in einer etwas vereinfachten Modifikation in der Allianz Arena des FC Bayern München getestet. Denn sowohl in Stadien als auch beispielsweise auf Offshore-Plattformen sind Verschmutzungen durch den aggressiven Kot der Vögel ein ständiges und vor allem kostspieliges Ärgernis.

Gewinnbringende Kooperation

Ob Windkraftanlage, Flughafen oder Stadion – dass die einzelnen Systemkomponenten in jedem der Anwendungsfälle reibungslos zusammen funktionieren, ist der engen Kooperation von Rheinmetall und ProTecBird zu verdanken. In ihrem nächsten gemeinsamen Projekt planen die beiden Partner, ein Nachtmodul für Fledermäuse zu entwickeln. Die nachtaktiven Säugetiere sind streng geschützt. Noch existiert keine entsprechende Lösung für eine anlassbezogene Abschaltung von Windenergieanlagen. Das soll sich ändern.

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