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Groß denken

25. August 2025

Kriegstüchtigkeit erfordert eine resiliente Energieinfrastruktur. Auf die fragilen Lieferketten für fossilen Kraftstoff können sich die europäischen Staaten im Bündnis- und Verteidigungsfall kaum verlassen. Warum stattdessen nicht einfach selbst im großen Maßstab E-Fuels herstellen? Über eine Vision abseits des Gewöhnlichen.

Power-to-X (PtX)

subsumiert alle Verfahren, die überschüssigen Ökostrom in gasförmige oder flüssige Energieträger umwandeln. Dabei steht das X entweder für die Energieform (Gas, Liquid, Heat) oder den Verwendungszweck (Fuel, Chemicals, Ammonia).

Der Ukraine-Krieg zeigt: Energie ist eine kritische militärische Fähigkeit. Werden wichtige Tanklager und Nachschublinien attackiert, bleiben Panzer aus Treibstoffmangel liegen. Massiv unter Beschuss steht auch immer wieder die Stromversorgung: Kraftwerke, Transformatoren und Netze. Mehr als die Hälfte der ukrainischen Kapazitäten sind inzwischen zerstört oder stark beschädigt mit verheerenden Auswirkungen für die Bevölkerung und die Wirtschaft.

Gesamtstaatliche Resilienz

Wollen Deutschland und die verbündeten NATO-Staaten in Europa zukünftig in ihren eigenen Reihen strategische Schwachstellen wie diese vermeiden, sind neue disruptive Ansätze in der Energieversorgung gefragt: für mehr Autonomie, mehr Diversifizierung und mehr räumliche Verteilung. Ansonsten ließe sich eine hohe gesamtstaatliche Resilienz nicht sicherstellen, ist Shena Britzen – Head of Hydrogen Program bei Rheinmetall – überzeugt. „Wir müssen in Logistik denken“, betont die Energie- und Militärexpertin, „und das in großem Maßstab.“ Ihre Idee: ein europaweiter Verbund aus mehreren hundert dezentralen Erzeugungsanlagen für synthetische Kraftstoffe mit jährlichen Produktionsmengen von je 5.000 bis 7.000 Tonnen Kraftstoff.

Rheinmetalls Projektvision Giga PtX

„Elektrizität, Wasser und CO₂ – mehr braucht es nicht, um die sogenannten E-Fuels herzustellen“, erklärt Britzen. Jede Anlage des Giga PtX-Verbunds arbeitet autark – mit Strom aus Photovoltaik-, Windkraft- oder Geothermieanlagen, mit eigenen Elektrolysekapazitäten für die Wasserstoffgewinnung, mit Carbon-Capture-Technologien für die Bereitstellung von Kohlenstoffdioxid aus Industrieabgasen sowie mit Reaktoren für die Dieselkraftstoff- oder Kerosinsynthese. Bei dem Projekt kooperiert Rheinmetall eng mit INERATEC, einem Spin-off des Karlsruher Instituts für Technologie. Mit seinen fortschrittlichen, modular aufgebauten Power-to-Liquid-Anlagen ist das badische Unternehmen weltweiter Marktführer.

Nachhaltiges Kerosin

Sustainable Aviation Fuels (SAF) sind der erste Schritt in die klimaneutrale Zukunft der Luftfahrt. Mindestens zwei Prozent davon muss der Flugzeugtreibstoff ab Januar 2025 laut EU-Gesetz enthalten. Ab 2030 ist zudem eine Subquote von mindestens 1,2 Prozent synthetischer Kraftstoffe (E-Fuels) vorgeschrieben. Beide Quotenvorgaben steigen in Fünfjahresschritten bis 2050 auf 70 Prozent SAF und 35 Prozent E-Fuels an. Bislang beträgt der SAF-Anteil laut der Umweltorganisation Transport & Environment weniger als 0,5 Prozent.

20,5 Millionen Tonnen Kraftstoff pro Jahr

Was die E-Fuels insbesondere für die Streitkräfte interessant macht: Anders als bei dem neu an Tankstellen verfügbaren HVO100, einem aus hydrierten Pflanzenölen hergestellten Dieselkraftstoff, wären hier alle erforderlichen Rohstoffe auch in Kriegszeiten in ausreichender Menge verfügbar. Allein Deutschland emittierte 2024 rund 650 Tonnen Treibhausgase. „CO₂ gibt es en masse und zu günstigen Preisen“, betont Britzen. „Je Kilogramm Kraftstoff benötigen wir lediglich drei bis vier Kilogramm CO₂ .“ Den Berechnungen von Rheinmetall zufolge soll Giga PtX für Europa pro Jahr 20,5 Millionen Tonnen E-Fuels erzeugen. So hoch wäre der Kraftstoffbedarf im Bündnis- und Verteidigungsfall. „Deutschlands Anteil an dem Projekt liegt bei fünf Prozent“, so Britzen. „Das entspricht einer Jahresproduktion von rund einer Million Tonnen – weitaus mehr als die Bundeswehr in Friedenszeiten benötigt.“

Die produzierte Überkapazität kann der Staat am Markt verkaufen und damit das anfänglich hohe Investitionsvolumen amortisieren. Denn die synthetischen E-Fuels haben einen großen Vorteil: Alle bestehenden Fahr- und Flugzeuge, ob zivil oder militärisch, können die sogenannten Drop-in-Kraftstoffe entweder ohne technische Umrüstung oder, bei Altsystemen, mit geringer Additivierung tanken. Und die Nachfrage wird steigen – allen voran in der Luftfahrt. Denn hier gilt seit 2025: Starten Flüge in Europa, müssen sie ihrem Kerosin eine klimafreundliche Kraftstoffalternative beimengen.

Mit E-Fuels zur Energieautonomie

Rheinmetall und seine Technologiepartner könnten Giga PtX innerhalb von fünf bis zehn Jahren flächendeckend in Europa realisieren. Die modulare Bauweise der Erzeugungsanlagen macht es möglich. Einmal dimensioniert und fertiggestellt, lässt sich die erprobte Prototypenanlage schnell replizieren und damit großskalieren. Die dafür erforderlichen Technologien sind ausgereift und erprobt. Die Kosten für das Projekt liegen im dreistelligen Milliardenbereich, können jedoch über die Lebensdauer der Anlagen mehr als amortisiert werden. „Unsere Vision ist nicht die günstigste Lösung“, weiß Britzen. „Sie ist aber die schnellste und resilienteste, um in puncto Kraftstoffe kriegstüchtig zu werden“, führt die Energieexpertin und Major der Reserve der Bundeswehr weiter aus. Die autarken Inselanlagen, die keinerlei Anbindung an das öffentliche Stromnetz benötigen, können an jedem beliebigen Ort stehen, idealerweise in räumlicher Nähe zu militärischen Verbänden oder Pipelinesystemen. Die dezentrale Verteilung, im Fachjargon Dislozierung genannt, erschwert die Angreifbarkeit der Infrastruktur.

Moment der Abschreckung

Mit einem PtX-Projekt dieser Größenordnung betritt Rheinmetall einen neuen und weitgehend konkurrenzlosen Markt. Aktuell steht das Rüstungsunternehmen mit vielen Verteidigungsministerien im Dialog, um sie von der außergewöhnlichen Idee zu überzeugen. Neben der hohen Resilienz und Amortisierung führt Britzen in den Gesprächen ein weiteres schlagkräftiges Argument ins Feld – das der Abschreckung: „Die Botschaft an unsere Gegner hätte Gewicht: Wir in Europa können unseren Kraftstoff selbst herstellen, unser Energiebedarf ist gesichert – auch im Kriegsfall.

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